Der Schatten von Thot
Boden gleiten, ungeachtet der schmierigen Schicht von Asche und Ruß, die das Pflaster überzog. Mit der rechten Hand tastete sie nach Quayles herrenlosem Revolver, während sie die umliegenden Gebäude im Auge behielt – aber jenseits des fahlen Scheins der Gaslaternen war nichts zu erkennen.
»Hilfe!«, rief Sarah laut. »Wir brauchen einen Arzt! Rasch…!«
Zwei Constables, die in einigem Abstand gefolgt waren, stießen zu ihr, und Sarah schilderte mit wenigen Worten, was geschehen war. Während die Polizisten in ihre Trillerpfeifen stießen, um ihre Kollegen zu alarmieren, kümmerte Sarah sich um Quayle. Der Inspector lag in bizarrer Verrenkung auf dem Boden, das mörderische Geschoss noch im Rücken. Blut rann aus seinen Mundwinkeln, was darauf schließen ließ, dass innere Organe verletzt waren. Die feiste Miene des Polizisten wirkte karg und ausgezehrt, jede Röte war aus ihr verschwunden.
»D-der Täter«, stieß er leise hervor, worauf nur noch mehr Blut über seine Lippen trat. »Er darf nicht entkommen…«
»Schhh.« Sarah schüttelte den Kopf. »Sie dürfen nicht sprechen, hören Sie? Sparen Sie Ihre Kräfte.«
»Ist zu spät… werde nicht…« Seine Worte wurden undeutlich, das Sprechen schien ihm Schmerzen zu bereiten. Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich das Blut aus den Mundwinkeln, aber immer mehr davon quoll hervor.
»K-Kincaid?«
»Ja?«
»Haben Sie… Wappen gesehen…?«
»Ja«, entgegnete Sarah leise. »Ich habe es gesehen.«
»Darf nicht entkommen… Sorgen Sie dafür, dass… Gerechtigkeit… Mörder fassen…«
Die letzten Worte presste Quayle zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, an seinem Blut würgend. Seine fleischige, eiskalte Hand griff nach Sarahs Arm und packte ihn, und er zog sie ganz nah an sich heran.
»Versprechen Sie es«, hauchte er kaum hörbar.
Sarah zögerte nur einen kurzen Augenblick. Sie sah die aschfahle Miene des Inspectors und seinen gebrochenen Blick und wusste, dass die nächsten Worte, die sie sprach, die letzten sein würden, die er auf Erden zu hören bekam.
»Ich verspreche es«, sagte sie leise – und als wäre dies die Absolution, auf die Quayle nur gewartet hatte, löste sich sein Griff, und sein Haupt sank zu Boden. Mit einem heiseren Keuchen starb der Ermittler von Scotland Yard, und zu Sarahs Verwirrung gesellten sich Trauer und Zorn. Und ernste Zweifel an der Lauterkeit des königlichen Erben…
7
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH N ACHTRAG
Die Ereignisse haben sich überschlagen – und wie immer, wenn das geschieht, gibt es Fragen, die unbeantwortet bleiben. Viele Fragen…
Wer ist der geheimnisvolle Mörder, der nun schon zum vierten Mal in Folge zugeschlagen hat? Und weshalb hat er es in unmittelbarer Nähe von Maurice du Gards Wohnung getan? War es bloßer Zufall oder steckt, wie du Gard vermutet, mehr dahinter? Wer sind die Komplizen, die den unglücklichen Inspector Quayle auf dem Gewissen haben? Und weshalb hat der Mörder zur Flucht eine Kutsche aus dem königlichen Marstall benutzt? Will er uns damit auf eine falsche Fährte locken? Oder ist es die Arroganz der Mächtigen, die uns auf diese Weise zu verstehen gibt, dass sie uns nicht als Gefahr erachtet?
All dies gilt es zu klären – und noch ungleich mehr. Denn auch Maurice du Gard gibt mir Rätsel auf Seiner Reaktion habe ich entnommen, dass er in seiner Vision etwas Schreckliches gesehen haben muss, aber noch immer weigert er sich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Gegenüber den Ermittlern des Scotland Yard habe ich es verschwiegen, aber mit einem Schaudern erinnere ich mich daran, dass du Gard vor seinem geistigen Auge das königliche Wappensiegel auf der Kutsche des Mörders gesehen hat.
Das Böse, hat er gesagt, lauert dort draußen – und ich bin geneigt, ihm zu glauben.
Während die Beamten des Yard weiter ihre Theorie verfolgen, dass der Täter von außerhalb des Königshauses stammen muss, habe ich dies betreffend Zweifel bekommen. Durch Jeffrey Hulls Vermittlung habe ich eine zweite Audienz beim Duke of Clarence erwirkt, mit dem erklärten Ziel, der Wahrheit auf den Grund zu gehen…
S T . J AMES P ALACE , L ONDON
14. N OVEMBER 1883
Rund eine Woche, nachdem sie zusammen mit Inspector Quayle in der St. James Street vorgesprochen hatte, fand Sarah Kincaid sich noch einmal dort ein – diesmal in Begleitung von Maurice du Gard.
Der Besuch fand in aller Heimlichkeit statt, und
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