Der Schatten von Thot
Franzose, der seinen Platz am Tisch verlassen hatte und ans Fenster getreten war. Durch die Lamellen der Jalousie blickte er auf die Straße hinab, in der Nachthändler ihre Stände aufgeschlagen hatten und Einheimischen wie Fremden ihre Waren anboten. Der flackernde Schein von Fackeln und Öllampen tauchte die gegenüberliegenden Fassaden mit ihren Erkern und Baldachinen, ihren Spitzfenstern und Arabesken in weiches Licht.
»Sie wissen es nicht?« Haydens Erstaunen wurde noch größer.
»Nicht genau.« Du Gard schüttelte den Kopf. »Für einen Moment glaubte ich, etwas zu fühlen…«
»Eine Vision?«, fragte Milton Fox unverhohlen zweifelnd.
»Oui, etwas in der Art. Vielleicht auch nur eine Ahnung. Aber für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass jemand dort draußen ist. Jemand, der uns beobachtet und…«
In diesem Moment überstürzten sich die Ereignisse.
Ein scharfer, peitschender Knall war zu hören. Glas barst mit hellem Klirren, und das Holz der Jalousie splitterte – einen Sekundenbruchteil, nachdem du Gard sich, einer jähen Eingebung gehorchend, hinter der Fensterbank zu Boden geworfen hatte.
Der Franzose spürte, wie etwas über ihn hinweg peitschte, ihn nur knapp verfehlte und sich mit einem hässlichen Geräusch in die gekalkte Decke bohrte.
»Ein Schuss«, stellte Hayden fest und griff nach seiner Waffe, einem schweren Armeerevolver der Marke Martini-Henry, während auch Milton Fox sich zu Boden warf, eine wüste Verwünschung auf den Lippen.
Die Waffe in der Hand, deren Spannhahn er mit dem Daumen zurückzog, presste sich Hayden rechts vom Fenster gegen die Wand, während er vorsichtig versuchte, einen Blick auf die Straße zu erhaschen. Aber inmitten der regen Betriebsamkeit vermochte er nichts Verdächtiges auszumachen. Trotz der vorgerückten Stunde waren noch viele Menschen auf den Beinen, und im Grunde konnte jeder von ihnen der Schütze gewesen sein.
»Verdammt«, zischte Hayden frustriert – er hasste es, in einen Hinterhalt zu geraten. »Alles in Ordnung mit Ihnen, du Gard?«
»Oui«, drang es von unter der Fensterbank herauf. »Glauben Sie mir jetzt, dass ich gewisse Dinge erahnen kann?«
»Das muss ich wohl.«
»Wer immer das war, er hatte es auf mich abgesehen.«
»Sieht ganz so aus. Seien Sie froh, dass er ein lausiger Schütze ist«, entgegnete der Offizier kaltschnäuzig. »Und jetzt, du Gard, werden Sie Ihr Schweigen brechen und mir mitteilen, wo sich Lady Kincaid gegenwärtig aufhält.«
»Wieso sollte ich?« Stöhnend raffte der Franzose sich auf und klopfte den Staub von seinem Rüschenhemd, das an diesem Ort noch deplatzierter wirkte als im fernen London.
»Sehr einfach – weil dieselben Leute, die gerade Ihren Tod wollten, es möglicherweise auch auf sie abgesehen haben. Vielleicht schwebt Lady Kincaid ohne es zu wissen in größter Gefahr, und dabei werde ich nicht tatenlos zusehen, verstehen Sie? Noch dazu, wo sich dieser Ägypter bei ihr befindet – ich hielt es von Anfang an für eine törichte Idee, ihn mitzunehmen.«
Du Gard blickte zuerst Hayden, dann den immer noch auf dem Boden kauernden und wie Espenlaub zitternden Milton Fox prüfend an. Für einen Augenblick wog er ab, was schwerwiegender war – Sarahs Wunsch, allein gelassen zu werden, oder ihre Sicherheit. Mit dem Anschlag auf du Gards Leben war eine neue Situation eingetreten, die Lage hatte sich geändert…
»D’accord«, stimmte er deshalb zu, »Sie haben Recht. In Anbetracht der Lage werde ich Ihnen verraten, wo Sarah sich aufhält.«
»Nun?«
»Sie befindet sich gegenwärtig auf der alten Sternwarte im Norden der Stadt. Sarah kennt dort jemanden seit ihrer frühen Jugend – einen alten Ägypter, den sie den ›Weisen‹ nennen. Sie wollte ihn um Informationen bitten.«
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Hayden grimmig und holsterte seine Waffe. »Auf zur alten Sternwarte. Und beten Sie, dass Lady Kincaid nichts zugestoßen ist, du Gard, andernfalls werde ich Sie persönlich dafür zur Rechenschaft ziehen…«
»Keine Sorge, ich werde beten, mon ami«, erwiderte du Gard prompt. »Aber gewiss nicht aus Sorge um mich…«
»… aus diesem Grund wisse, Sarah Kincaid, dass das Buch von Thot einst im heiligen Tempelbezirk von Unu aufbewahrt wurde, wo die Hohepriester des Mondgottes es über Generationen hinweg hüteten – bis um das Jahr 950 nach eurer Zeitrechnung das Pharaonenreich in einen blutigen Krieg gestürzt wurde, der es aus dem Inneren heraus zerfraß.
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