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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Sterndeuter gehört. Und wer die Zuneigung des Weisen besaß, dem war auch Keshs Freundschaft sicher.
    Kesh war ein einfacher Mann.
    Er liebte es, zu Füßen des Weisen zu sitzen und den Geschichten zu lauschen, die der alte Ammon wie kein Zweiter zu erzählen verstand. Und trotz seiner hünenhaften Erscheinung gehörte Keshs Leidenschaft türkischem Honig und anderen Leckereien, die an den Straßenecken und auf den Basaren feilgeboten wurden. Hin und wieder ließ der alte Ammon ihm etwas Geld zukommen, damit er sich davon etwas kaufen konnte – schon dafür gehörte dem Weisen Keshs uneingeschränkte Loyalität.
    Kesh war vom Herrn nicht mit übermäßiger Klugheit gesegnet, aber auch er wusste, dass Sarah Kincaid etwas Besonderes war. Schon als Junge hatte er ihre Schönheit und Anmut bewundert. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er überzeugt gewesen, dass sie die Nachkommin einer Königin sein müsste, und eigentlich hatte er diesen Glauben bis heute nicht ganz aufgegeben. Wenn sie ihn um etwas bat, so tat er alles, um dieser Bitte nachzukommen. So war es schon damals gewesen, und so war es bis heute geblieben…
    Kesh beobachtete den Mann namens Kamal aus sicherer Entfernung. Am Fuß der Treppe kauernd, die zum Eingang des Turmes führte, den Kaftan eng um die Schultern gezogen, behielt er den Ägypter im Auge, genau wie Sarah es ihm aufgetragen hatte.
    Mit einiger Missbilligung konstatierte Kesh, was für ein unruhiger Bursche dieser Kamal war. Mal trieb er sich am Heck der Kutsche herum, mit der Sarah Kincaid gekommen war, mal vorn bei den Pferden. Dann wieder setzte er sich auf einen Felsen und nahm den Turm in Augenschein, der sich wie ein alter, knorriger Baum an den Hängen des Mokattam erhob. Dazu schien Kamal ein ziemlich schweigsamer Bursche zu sein. Mehrmals versuchte der Kutscher, der pflichtschuldig auf dem Kutschbock hockte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber er bekam nur einsilbige Antworten. Die Aufmerksamkeit Kamals schien dem Turm zu gehören, was Kesh ganz und gar nicht behagte.
    Ammons Diener beschloss daher, nicht nur ein aufmerksames, sondern auch ein besonders strenges Auge auf Kamal zu haben, um die Aufgabe, die man ihm übertragen hatte, zu aller Zufriedenheit auszuführen. Vorher aber wollte er sich noch ein wenig türkischen Honig gönnen, von dem er stets etwas in den weiten Taschen seines Kaftans aufbewahrte. Kesh brauchte nicht lange, um etwas von der klebrigen Leckerei abzureißen und es sich in den Mund zu schieben – als er jedoch wieder aufblickte, war Kamal verschwunden.
    Der Diener des Weisen brummte unwillig und raffte sich auf die Beine, verließ seinen Posten am Fuß der Treppe, um die Kutsche besser im Blick zu haben – aber Kamal tauchte nicht wieder auf. Offenbar hatte er Keshs Unaufmerksamkeit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen…
    Plötzlich nahm Kesh aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr. Schwerfällig wandte er sich um – und sah einen Schatten, der die Felsen heraufgehuscht kam, geradewegs auf ihn zu. Der türkische Honig fiel Kesh vor Schreck aus dem Mund, als er in der Dunkelheit zwei weiße Augen blitzen sah. Im nächsten Moment flog aus der Schwärze die rasiermesserscharfe Klinge eines Dolchs auf ihn zu.
    Der Diener des Weisen kam noch dazu, die Hände vors Gesicht zu reißen und so seine Kehle zu schützen – worauf die Klinge ihre Stoßrichtung änderte und mit furchtbarer Wucht in seinen Bauch fuhr. Kesh spürte sengenden Schmerz, als würde ein glühendes Eisen in seinen Eingeweiden rühren. Instinktiv griff er nach seinem eigenen Dolch, der in den Falten seiner Schärpe steckte, aber ihm blieb keine Zeit mehr, ihn zu ziehen. Denn in diesem Moment kam der zweite Stich aus der Dunkelheit – und mit ihm das Ende…
     
     
    »Warum, Sarah?«, fragte der alte Ammon flüsternd. »Warum trachtest du danach, das Buch der Geheimnisse zu finden? Erforsche dein Gewissen und antworte mir. Tust du es um deines Ruhmes willen? Oder um den Ruhm derer zu fördern, die dich geschickt haben?«
    »Weder noch.« Sarah schüttelte den Kopf. »Jemand anderes setzt alles daran, sich das Wissen des Buches anzueignen – jemand, der Böses im Schilde führt und dem Menschenleben nichts bedeuten. In meiner Heimat hat dieser Jemand vier junge Frauen getötet und einen Menschen entführt, der mir viel bedeutet. Ich kann nicht…«
    »Vier junge Frauen?«, hakte der Alte nach.
    »Allerdings.«
    »Und wurden ihnen Organe entfernt? Die Leber, die Lunge, der

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