Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
zählen, wie oft ich schon versucht habe, meinem Vater oder meinen Brüdern begreiflich zu machen, dass unser Leben in diesem wilden, kargen Land schon hart genug ist, ohne dass wir einander bekriegen. Aber sie wollen es nicht einsehen. Ich wurde ein Feigling genannt, und Schlimmeres, und mein Vater hat mir für diese abweichlerischen Einwände schon das eine oder andere Mal den Kopf gewaschen.« Unvermittelt verfinsterte sich seine Miene. »Schließlich habe ich aufgehört, so zu denken. Seit ich Amellin habe sterben sehen, kann ich mit der Wolfsippe keinen Frieden schließen. Ich fürchte, so geht es uns allen. Es gibt zu viel alten Groll, zu viel Hass. Wir töten sie, sie rächen sich – so geht es immerfort bei allen Sippen und hört nicht auf bis ans Ende der Zeit.«
Seriema atmete tief durch und spürte die alte Streitlust in sich aufsteigen. »Es muss aber aufhören – und zwar sofort. Sonst werden alle sterben, wenn die fliegenden Bestien kommen.«
Ihr Tonfall bewirkte, dass Cetain sie ansah. »Sind sie denn wirklich so schrecklich?«
»Ja«, sagte Seriema. »Viel schrecklicher als du dir überhaupt vorstellen kannst. Und unsere Pflicht wird es sein, die anderen Sippen davon zu überzeugen.«
»Und wenn wir versagen?«
»Dann wird es das Ende der Rotten sein. Also versagen wir lieber nicht, Cetain, uns allen zuliebe.«
Es blieb keine Zeit, mehr dazu zu sagen, denn in der Zwischenzeit hatte sich der Himmel verfinstert und der Sturm setzte ernsthaft ein. Dicht wie ein Vorhang jagte eisiger Regen über die schutzlosen Hügel und schlug den Reitern ins Gesicht. Cetain, der neben ihr ritt, verwandelte sich in einen verwischten Schattenfleck, und sie konnte nicht mehr hören, dass ihnen die anderen Krieger folgten. Die Pferde fielen aus dem Galopp in einen sturen Trott, hielten die Köpfe gesenkt und ihre kräftigen kurzen Beine mussten sich sehr anstrengen, um ihre Leiber gegen den Wind vorwärts zu tragen.
»Wir müssen reiten, solange wir irgend können«, rief Cetain. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn deine Bestien wirklich kommen, sollten wir lieber früher als später in die Festung zurückkehren.«
Seriema nickte, obgleich es nicht das war, was sie gern gehört hätte. Obwohl die dicke, gefettete Wolle des Soldatenmantels eine gewisse Wassermenge abstieß, war er doch diesem Regenguss nicht gewachsen, und bald zog der durchgeweichte Stoff an ihren Schultern. Der Wind blies ihr immer wieder die Kapuze vom Kopf, also hieß es entweder, sie ständig mit einer Hand festhalten oder aufgeben. Sobald sie die Nässe auf der Haut spürte, entschied sie sich für das Zweite.
Innerhalb weniger Augenblicke war es eisig kalt geworden. Hinterkopf, Gesicht und Ohren schmerzten, und obwohl sie die nassen Zügel noch festhielt, spürte sie ihre Hände nicht mehr.
Zur Hölle mit dem wilden, freien Leben! Für ein hübsches großes Feuer, ein heißes Bad und ein Riesenglas Branntwein würde ich es sofort aufgeben.
Cetain drängte sein Pferd dicht an ihres. »Geht es dir gut, Mädchen?«
Als Seriema antworten wollte, bekam sie Regen in den Mund. Sie spuckte, wischte sich das strömende Wasser aus den Augen und versuchte es noch einmal. »Ist mir noch nie besser gegangen«, rief sie.
Durch den heulenden Sturm hörte sie ihn lachen. »Du bist eine Erzlügnerin.«
»Was hast du erwartet? Erinnere dich, ich bin Händlerin.«
»Du siehst nicht mehr sehr danach aus. Du siehst aus, als gehörtest du hierher, auf die Heide bei Sturm und Regen.«
Und ich fühle mich wie eine halb ersäufte Ratte – aber ganz bestimmt werde ich dieses Trugbild nicht zerstören, indem ich zugebe, dass ich erfriere, oder nach einem Unterstand frage.
Seriema strich sich mit steifen Fingern die Haarsträhnen aus dem Gesicht und verfluchte den Sturm freimütig. Aber es hatte keinen Zweck, sich selbst vorzumachen, dass sie nicht begeistert war, und das neue Feuer, das in ihr brannte, war das beste Gegenmittel gegen den eiskalten Wind.
Grimm stand im Arbeitszimmer und rang mit seinem Gewissen. Nach dem Gespräch mit Amaurn lag das Schicksal nicht eines, sondern gleich zweier junger Männer in seiner Hand. Er fühlte sich entsetzlich schuldig, weil er den armen Scall aus seiner neuen Umgebung herausreißen, ihn von seinen Freunden trennen musste, just wo der Junge sich sicher wähnte – jedenfalls so sicher, wie man in diesen Tagen sein konnte. Aber Schuld oder nicht, er wusste, dass er Amaurn am Ende nicht trotzen konnte. Nicht
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