Der Schattenesser
Furchtverdrängt, die ihr der Bote einflößte. In weiten Abständen brannten Fackeln an den Wänden, die wohl die Frau auf ihrem Hinweg entzündet hatte. Doch sie waren kaum von Nutzen, denn der mal'ak Jahve folgte ihnen weiterhin, und wenngleich er in den verwinkelten Gängen keine Gelegenheit hatte, seine Kräfte vollständig anzuwenden, so eilte ihm sein Glanz doch voraus und erfüllte die Tunnel mit fahlem Schein.
Im Laufen blickte Sarai immer wieder besorgt auf ihren Schatten, der unversehrt vor ihr herhuschte. Offenbar konnte ihm nur die volle Einwirkung der Doxa gefährlich werden, nicht aber deren trübe Ausläufer.
Immer wieder stiegen sie über die Trümmer eingestürzter Mauern, umkletterten herabgefallene und verkantete Balken und durchquerten einmal gar ein Kellergeschoß, auf dem kein Haus mehr stand; am Himmeldarüber glänzten die Sterne. Sogleich aber stießen sie erneut in die Tunnel der Judenstadt vor, sprangen Treppen hinauf und hinunter, staunend über die Weitläufigkeit dieser unterirdischen Welt.
Der letzte Gang, den sie nahmen, endete weiter vorn an einer schweren Bohlentür. Sarai fürchtete schon, der Durchgang würde sie übermäßig aufhalten, doch kaum hatte sich die Hühnerfrau ihr als erste genähert, da wurde die Tür von der anderen Seite her aufgerissen. Ein stechender Geruch strömte ihnen entgegen, dann stürmten sie auch schon hindurch. Hinter ihnen schlugen zwei weitere Hühnerweiber die Tür zu und verriegelten sie. Sarai bemerkte, daß sie an der Innenseite mit irgend etwas behängt war, doch ihre Führerin drängte sie weiter, bevor sie Genaues erkennen konnte.
Vor ihnen öffnete sich ein langer Korridor, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit winzigen Käfigen zugestellt waren. Man hatte sie lückenlos auf- und nebeneinandergestapelt, ohne den geringsten Platz ungenutzt zu lassen. Darin saßen Hühner, Tausende, Zehntausende von Hühnern. Der scharfe Gestank ihrer Ausscheidungen war kaum zu ertragen. Die meisten der Tiere flatterten aufgeregt auf und ab, als die drei an ihren Käfigen vorüberliefen. Riesige Federwolken stoben durch die Gitter und nahmen ihnen die Sicht. Sarai hatte sich nie zuvor vor Hühnern geekelt, doch nun flößten ihr die kreischenden, hüpfenden Tiere eine instinktive Scheu ein. Die wirbelnden Federn gerieten ihr in Mund und Augen, klebten an ihrer schweißnassen Haut und bedeckten sie bald von oben bis unten. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Drang, stehenzubleiben und die weißen und braunen Daunen mit beiden Händen abzuklopfen.
Einmal blickte Sarai sich um und sah durch das Wogen von Federn die beiden Hühnerfrauen, die ihnen in einigem Abstand folgten. Das Schreien der Tiere war ohrenbetäubend, und doch glaubte sie ein heftiges Poltern an der Tür zu vernehmen. Der mal'ak Jahve verlangte Einlaß.
Sie kamen in eine Kammer, in der die Käfige in mehreren Reihen aufgestellt worden waren. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine weitere Tür. Auch sie wurde aufgerissen und hinter ihnen wieder verriegelt.
Zwei weitere Hühnerweiber schlössen sich ihnen als Nachhut an. Nun waren sie schon zu siebt. Im Vorbeilaufen bemerkte Sarai, daß auch diese Tür an der Innenseite mit etwas geschmückt war. Es sah aus wie ein wirres Gitter aus Zweigen.
Noch ein Gang voller Hühnerkäfige, noch mehr Federn, noch mehr Geschrei. Dann eine dritte Tür.
Dahinter herrschte zu Sarais Erstaunen andächtige Stille. Umgeben von einer Wolke aus Federn stürmten sie in ein großes Kellergewölbe. Im selben Moment, da die letzten von ihnen die Halle betraten, wurde auch diese Tür zugeworfen und mit einem kräftigen Balken versperrt. Nun erkannte Sarai endlich, was die Innenseiten der Türen bedeckte. Es waren Herzen, Dutzende von kleinen, vertrockneten Hühnerherzen, die man auf ein Geflecht aus Dornenzweigen gesteckt hatte wie Tonperlen auf eine Halskette.
Der Raum selbst war durchzogen von Balken, auf denen die Hühnerfrauen in ihrer Vogelstellung hockten, schweigend, die Knie vor die Brust gezogen. Mit ihren Federmänteln und Schädelkappen sah eine aus wie die andere .
Die fünf Hühnerweiber, die mit ihnen durch die Keller geflohen waren, nahmen in einem Halbkreis hinter Sarai und Kaspar Aufstellung. Auf der anderen Seite des Raumes traten durch einen offenen Vorhang vier Gestalten. Sarai erkannte sie sofort: Es waren die drei alten Frauen vom Hradschin, und in ihrer Begleitung kam das junge Mädchen zur Tür herein, das sie die Treppe
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