Der Schattenesser
Helligkeit am Ende der Gasse. Siespürte kaum, wie er mit ihr vor einer Haustür stehenblieb, sie losließ und seine Schulter mit aller Kraft gegen das Holz krachen ließ. Doch die Tür hielt stand. Er blickte sich um und erkannte die Ausweglosigkeit ihrer Lage. Alle Fenster in der Umgebung waren vernagelt. Verzweifelt packte er Sarai erneut und zog sie mit sich die Gasse hinunter, geradewegs fort von dem überirdischen Licht, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die nächste Abzweigung, hinter der sie Schutzsuchen konnten, lag mehr als vierzig Schritte entfernt.
Kaspar wußte nicht, welche Bedrohung von diesem Leuchten ausging, doch sein Verstand sagte ihm, daß sie ihm um jeden Preis entkommen mußten. Sarai ließ sich wie eine Bunde von ihm führen. Im Gegensatz zu ihm hatte sie mitten in die Quelle des Lichts geschaut. Es war fast, als hätte die Helligkeit ihr Denken verbrannt.
Zwanzig Schritte bis zur Abzweigung. Kaspar sah ihre beiden Schatten vor sich auf dem Pflaster, lange Pfeile, die ihnen vorauseilten.
Dann sah er noch etwas: Auf halber Strecke zur Einmündung öffnete sich neben einer Hauswand der Boden. Eine Platte wurde beiseitegeschoben, und zwei Hände reckten sich ins Freie.
Ohne nachzudenken schleppte er Sarai auf den Einstieg zu. Ihm war gleichgültig, wer sich darunter verbarg und warum derjenige sich nicht zeigte. Die beiden Hände wedelten immer aufgeregter in der Luft, winkten ihnen jetzt sogar zu. Wer immer es war, er mußte die Macht der Leuchtens kennen, denn er wagte nicht, sich ihm auszusetzen.
Kaspar rannte weiter. Er erwartete jeden Augenblickeinen Schmerz im Rücken, einen Stich oder Hitzeschlag. Doch nichts dergleichen geschah. Was immer das Licht ihnen antun konnte, es tat es ohne körperlichen Schmerz.
Ihre Schatten erreichten den Rand der Öffnung vielmehr als sie selbst. Kaspar stieß Sarai in die Tiefe und sprang ohne Zögern hinterher. Polternd fielen sie eine Rampe hinunter und landeten stöhnend vor Schmerz auf hartem Kellerboden. Eine dritte Gestalt lag ebenfalls schweratmend da. Kaspar und Sarai hatten sie mit sich nach unten gerissen. Es war eine Frau; ein seltsamer Mantel lag über ihr ausgebreitet. Der Stoff war mit Federn besetzt. Hühnerfedern, wunderte sich Kaspar.
Er rappelte sich auf und sah zu seiner Erleichterung, daß Sarai zwar vom Sturz benommen war, jedoch nicht mehr unter dem Bann des Lichtes stand.
»Wo ist er?« fragte sie und hielt sich den Schädel.
Ehe Kaspar antworten konnte, stand die Frau plötzlich vor ihnen und sagte: »Wir müssen hier weg. Er wird uns folgen.«
Sarai sprang auf die Beine und blickte hinauf zur Öffnung am oberen Ende der Rampe. Helligkeit herrschte jenseits des kleinen Rechtecks. Der mal'ak Jahve hatte keineswegs aufgegeben. Das Hühnerweib hatte recht sie mußten fort von hier, ehe der Schattenesser ihnen durch die Luke nach unten folgte.
Sarai reichte Kaspar, der immer noch das Hühnerweib anstarrte, ihre Hand. Bisher hatte sie angenommen, die Frauen hätten sich den Schädel bis auf den roten Kamm in der Mitte kahlgeschoren, doch nun erkannte
264 sie, daß die Frau eine enge Kappe trug. Sie mußte aus Haut oder dünnem Leder sein, denn sie fiel erst aus der Nähe ins Auge. Quer über der Stirn verlief der vordere Rand als haarfeiner Strich. Als die Frau sich umdrehte und wortlos vorauseilte , erkannte Sarai, daß die Leder kappe im Nacken eingeschnitten war. Das Haar quoll unter der Maskerade hervor und verschwand im Kragen des Mantels.
»Wer ist das?« flüsterte Kaspar, während sie der Frau durch einen engen Gang folgten.
»Später«, erwiderte Sarai knapp.
Was wußte sie schon über diese Frauen? Sie verstand nicht einmal, warum sie ihr jetzt das Leben retteten. Denn daß dies nicht das Werk einer einzelnen war, schien ihr gewiß.
Ein schepperndes Geräusch erklang aus der Kammer, die sie vor einem Moment verlassen hatten. Sie blickten sich im Laufen um und sahen, wie grelles Licht über die schräge Rampe flutete. Im nächsten Augenblick machte der Korridor eine Biegung, und sie konnten nicht mehr sehen, wie der mal'ak Jahve die Jagd aufnahm. Sein Machtglanz aber folgte ihnen sogar um die Ecke.
»Schneller, schneller!« rief das Hühnerweib.
Die Frau führte sie durch ein Labyrinth von Kammern und Stollen, die anhand von Durchbrüchen und verborgenen Türen miteinander verbunden waren.
Sarai verspürte kaum noch Angst vor den Hühnerfrauen, und der letzte Rest wurde von der eisigen
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