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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Zeit mit meinen Eltern in' einem Zimmer, auch als mein Vater schon tot war. Trotzdem habe ich mich nicht angesteckt.«
    »Deshalb hattest du keine Angst, mit mir über den Fluß zu kommen.« Er grinste schwach. »Du meinst, abgesehen davon, daß ich keine andere Wahl hatte? Ja, das stimmt.«
    Sie liefen weiter, durch Torbögen mit blankgeschliffenen Steinpfosten, durch gewundene Hohlwege und Tunnel vorbei an alten, verzogenen Türen. Aus einigen Fenstern, jenen, die nicht vernagelt waren, ertönte das Keuchen und Röcheln der Sterbenden. Manche wurden vom Beten ihrer Familien übertönt.
    Sie kamen noch an einem halben Dutzend weiterer Pestkarren vorbei, die alle von vermummten Gestalten beladen wurden. Einmal trat ihnen ein alter Rabbi entgegen, der einen Rauchbehälter schwenkte, als könnten die Dämpfe den Pestatem abtöten. Als sie nah an ihm vorbeiliefen, sahen sie, daß er blind war. Seine Augäpfel waren weiß wie polierte Knochen.
    Dann stiegen sie über einen schmutzigen Bachlauf, der unter einem Haus hervorsprudelte, an der Gasse entlangführte und unter einem anderen Gebäude wieder verschwand. In seiner Kehre hatte sich der Leichnam eines Säuglings verfangen. Schwarze Beulen schimmerten auf dem weißen, haarlosen Schädel.
    Sarai war, als irrte sie durch eine fremde Stadt, nicht durch das Viertel, in dem sie aufgewachsen war. Die Totenstille, nur hier und da vom Krächzen der Sterbenden durchdrungen, lag wie eine Glocke über den Gassen. Die Leere, viel schlimmer noch als während der vergangenen Tage, schuf ein völlig neues Bild einstmals vertrauter Ecken und Plätze. Selbst die Häuser schienen mit einem mal schief und vornübergebeugt.
    Zuletzt bogen sie in eine Straße, die geradewegs zur Altneu-Synagoge führte.
    Sarai dachte: Wir haben es geschafft. Und einen Herzschlag lang glaubte sie tatsächlich daran.
    Der mal'ak Jahve, Liebhaber großer Auftritte, versperrte ihnen den Weg, als sie kaum mehr dreißig Schritte vom Eingang entfernt waren. Ganz plötzlich stand er da, schweigend und reglos inmitten der Gasse. Diesmal herrschte kein Nebel wie bei ihrer ersten Begegnung, und doch schien seine Erscheinung seltsam diffus. Sein Körper war scharf umrissen, sein Gesicht aber blieb vage, beinahe unfertig, als sei es auf ewig im Schöpfu ngsakt gefangen. Sein schwarzer Mantel bewegte sich nicht, trotz des Windes, der den Gestank der Pestfeuer pfeifend durch die Straßen trieb.
    »Warum läufst du davon?« fragte der Bote mit geschlechtsloser Stimme.
    Sarai war stehengeblieben, ebenso Kaspar, der abwechselnd verwirrte Blicke in ihre und die Richtung des Fremden warf.
    »Ist er das?« flüsterte er.
    Sarai gab keine Antwort. Der Schreck hatte ihr die Stimme geraubt. Alles war umsonst, ihre ganze Flucht war nichts als ein Spiel des mal'ak Jahve gewesen. Er hatte gewußt, daß sie zurückkehren würde. Er hatte nur warten müssen.
    »Warum fliehst du vor deinem Schöpfer?« fragte der Bote noch einmal.
    »Du bist nicht mein Schöpfer«, brachte Sarai mühsamhervor. Zwischen ihr und dem mal'ak Jahve lagen etwa ein Dutzend Schritte. Sie mußte laut sprechen, um das Rauschen des Windes in den leeren Häuserschluchten zu übertönen. Doch sie ahnte, daß der Bote sogar ihr Flüstern verstand.
    Er schien keinen Wert auf weitere Reden zu legen.
    Er sagte nur: »Sieh her!«
    Und das tat sie. Wie gebannt, und eindeutig gegen ihren Willen, starrte sie auf die schwarze Gestalt, die jetzt die Ränder ihres Gewandes beiseite zog. In dem bodenlosen Abgrund, der dahinter lag, erkannte sie ein schwaches Glühen. Die Doxa, der Machtglanz des mal'ak Jahve, stieg rasend aus diesem Schlund empor, kam immer näher, wurde heller und strahlender und tauchte die Gasse in gleißendes Licht.
    Diesmal gab es keine Dachluke, die sich vor ihr öffnete. Keine magische Kammer, zu der der Bote keinen Zugang hatte. Sie blickte hinauf zum Giebel der Synagoge und suchte das winzige Fenster, suchte den Golem, doch das aufbrausende Licht blendete sie zu sehr. Einen winzigen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, als bäume sich etwas in ihrem Schatten auf, ängstlich, verzweifelt, beinahe menschlich.

Kaspar packte sie und riß sie zur Seite. Sarai ließ es willenlos geschehen, gebannt von der Macht des göttlichen Boten. Das Licht wurde immer noch heller und ging dann in ein weißes Glühen über. Nicht mehr lange, und die Doxa würde ihre ganze Macht entfalten.
    Kaspar brüllte ihr irgendwas ins Ohr, aber sie hatte nur Augen für die

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