Der Schattenesser
anfangen?«
»Ja, mag sein«, erwiderte Sarai ohne große Hoffnung.
Es gab dringendere Dinge, um die sie sich sorgen mußte. Angestrengt sah sie sich nach einer einsamen Gestalt in Schwarz um. Sie konnte noch immer nicht fassen, daß sie es bis hierher geschafft hatte, ohne dem mal'ak Jahve zu begegnen.
Vorsichtig führte Sarai Kaspar durch ein schmales Tor. Dahinter mündete ein dunkler Tunnel auf einen Hinterhof. In seiner Mitte stand ein abgestorbener Baum, fast so hoch wie die Dächer, aber ohne Leben. Nicht einmal Vögel hatten sich in seinen kahlen Ästen niedergelassen. Schmale Treppen führten an den angrenzenden Fassaden hinauf. Alles war verlassen, viele der unteren Fenster mit Brettern vernagelt. Auch hier gab es Spuren der Plünderung: zerbrochene Möbel, die aus Fenstern geworfen worden waren, zerfetzte Kleidung, herabgerissene Vorhänge. Quer über den Treppen hingen Schnüre, an denen die Bewohner ihre Kleidung getrocknet hatten.
Über eine Balustrade im ersten Stock gelangten sie in einen weiteren Flur. Eine Zwischentür war verschlossen, doch Kaspar trat sie kurzerhand auf. Niemand stellte sich ihnen in den Weg. Es war, als sei das ganze Viertel ausgestorben.
Durch ein Fenster am Ende des Flurs kletterten sie auf eine Balustrade im nächsten Hof, rannten eine weitere Treppe hinunter, durchquerten ein feuchtes Kellergeschoß und kamen schließlich auf einem kleinen Platz wieder ins Freie. Auch hier war alles wie tot. Kein Mensch war auf der Straße.
Oder doch - da war jemand! Auf der anderen Seite des Platzes, jenseits eines überdachten Ziehbrunnens, stand vor einem Haus ein offener Karren. Darauf waren leblose Körper gestapelt, die meisten in alte Laken gewickelt. Zwei Männer, dickvermummt und mit seltsamen Masken vor den Gesichtern, schleppten einen weiteren Toten aus der Haustür und warfen ihn zu den anderen auf den Karren. Ein dritter Mann stand daneben, ebenfalls bis zur Unförmigkeit in Tücher gehüllt. In seiner Hand hielt er einen langen Dreizack aus Holz mit gebogenen Spitzen. Es sah aus wie eine dreifingrige Klaue. Damit stieß er mitten unter die Leichen und schob sie mühevoll auf dem Wagen umher, damit kein Winkel ungenutzt blieb.
Plötzlich entdeckte Sarai, daß sich der letzte Körper, den die Helfer auf den Wage n geworfen hatten, noch regte. Kaspar versuchte, sie zurückhalten, doch seine Hand, die ihren Arm packen wollte, griff ins Leere. Sarai rannte über den Platz hinweg auf den Karren zu.
»Er lebt noch!« rief sie dem Vermummten mit dem Dreizack entgegen.
Das verhüllte Gesicht wandte sich ihr zu. »Verschwindet! Geht nach Hause.« »Der Mann dort lebt noch«, wiederholte sie aufgebracht und zeigte auf den zuckenden Körper.
Der Maskierte schüttelte den Kopf. »Der Pesthauch istin ihm. Er vergiftet nur das Haus. Keiner kann ihn retten.«
Voller Entsetzen entdeckte Sarai nun, daß auch in den anderen Körpern noch Leben war.
»Was geschieht mit ihnen?« fragte sie tonlos.
»Sie kommen ins Feuer. Nur die Flammen können den Keim der Seuche bezwingen.«
»Ihr verbrennt lebende Menschen?« »Sie sterben sowieso. Noch vor dem Morgengrauen
rafft sie die Pest dahin, auch ohne uns. Es ist einfacher, wenn wir sie jetzt schon mitnehmen. Und nun, Kind,
verschwinde von hier!«
»Warum ging das so schnell?« fragte sie stockend.
»Ein Schlachter war einer der ersten, der sich ansteckte. Die Leute kauften sein Fleisch und ...« Der Mann wies mit seiner Gabel auf die Kranken und Toten. Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu führen.
Kaspar, der sie eingeholt hatte, zog Sarai gegen ihren Willen von dem Karren fort. »Komm schon, du kannst ohnehin nichts tun. Es wird überall so gemacht. Wer sich ansteckt und keine Familie hat, die ihn schützt, der kommt ins Feuer.«
Ungläubig starrte sie ihn an, folgte ihm aber willenlos, als er sie davonführte. »Woher weißt du das?«
»Meine Eltern starben beim letzten Ausbruch der Seuche«, entgegnete er und blickte im Gehen starr nach vorne. »Ich war noch sehr klein. Die Männer, die sie abholten, haben mich nicht gesehen, ich hab mich unterm Bett versteckt. Ich sah, wie sie meinen Vater und meine Mutter davontrugen. Meine Mutter lebte noch. Sie rief sogar meinen Namen.«
»Du meinst, man hat sie ...«
»Verbrannt, weil sie die Krankheit schon in sich trug.«
»Das ist grauenvoll.«
Er hob die Schultern. Offenbar hatte er sich längst damit abgefunden. »Die Krankheit kann mir nichts anhaben. Ich war während der ganzen
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