Der Schattenesser
düstere Platz war verlassen, nirgends gab es auch nur eine Spur von Leben. Allein in einigen der angrenzenden Häuser schimmerte Kerzenlicht durchverhängte Fenster. Die meisten Bewohner mußten um diese Zeit schlafen.
Aus einer Straße, die nahebei in den Platz mündete, ertönte plötzlich ein Quietschen und Schleifen. Sarai erkannte die Laute. Einer der Pestkarren näherte sich.
Auch in der Nacht wurden die Kranken und Toten aus den Häusern geholt. Flüsternd warnte Sarai die Hühnerweiber vor der drohenden Entdeckung.
Im selben Moment gab der Riegel des Portals nach, und der Torflügel schwang nach innen. Hastig glitten siehinein und drückten die Tür wieder hinter sich zu. Gerade rechtzeitig, denn während der Spalt sich noch schloß, bemerkte Sarai, wie der Pestkarren um die Ecke bog. Mehrere Vermummte, jeder mit einem stumpfen Dreizack in Händen, begleiteten das Gefährt. Auf der Ladefläche lagen reglose Körper.
Aus dem Hauptsaal der Synagoge fiel Kerzenschein in den Vorraum. Sie blickten durch den offenen Durchgang und entdeckten den Rabbi, der schweigend mit dem Rücken zur Tür vor dem Aron ha-Kodesch, dem Thora-Schrein, kniete. Er schien ihr Eindringen nicht bemerkt zu haben.
Sarai löste sich von seinem Anblick und eilte zur Tür, hinter der die Stufen zum Dachboden führten. Sie öffnete sie und blickte in den finsteren Treppenschacht. Die obere Speichertür war geschlossen.
Sie wollte hinaufeilen, doch eine der Hühnerfrauen hielt sie zurück. »Wir haben dich weit genug begleitet«, sagte sie. »Viel Glück.«
Ehe Sarai noch etwas erwidern konnte, hatten sich die Frauen bereits abgewandt und eilten zurück zum Portal. Sie empfand keine Dankbarkeit. Immerhin waren die Frauen es, die Kaspar gefangen hielten - und mit dem Tode bedrohten.
Sie wandte sich erneut zur Treppe, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Der Rabbi! dachte sie. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Schnell zischte sie den Hühnerweibern zu, sie sollten zurückbleiben. Die Frauen hatten gerade das Portal geöffnet. Die Verzögerung verärgerte sie. Ihnen war anzumerken, daß sie von der Gefahr, die Sarai und ihre Anführerinnen beschworen hatten, keine hohe Meinung hatten . Wo war er denn, ihr geheimnisvoller Gegner? Weshalb zeigte er sich nicht, wenn er soviel Wert auf das Mädchen legte?
Trotzdem blieben sie stehen und warteten. Mit geringschätzigen Blicken verfolgten sie, wie Sarai erneut vor die Tür des Hauptsaales trat.
Der Rabbi kniete noch immer wortlos an der Stirnseite der Synagoge. Sein Gesicht war abgewandt, sein Kopf gesenkt. Das Kerzenlicht zuckte unstet über die Wände, als der Luftzug vom Hauptportal durch den Saal wirbelte. Der Mann regte sich nicht. Das Licht traf ihn von hinten und hätte seinen Schatten vor ihm auf den Thora-Schrein werfen müssen. Doch da war nichts, nur diffuses Dämmerlicht. Kein Schatten.
Und Sarai begriff, daß der mal'ak Jahve sie erwartete.
Er war hier. In der Synagoge.
Sie schaute sich bangen Herzens um. Außer den Hühnerweibern war niemand zu sehen. Die Frauen starrten sie verwundert an.
Sarais Blick fiel zur Ecke des Vorraumes, dorthin, wo er in den Seitenarm mündete. Jenseits davon lag die Treppe zum Speicher.
Natürlich! durchfuhr es sie. Er erwartet mich oben. Gleich vor der Tür der Golemkammer. Nur so konnte der Bote sicher sein, daß sie ihm kein drittes mal entkam.
Mit weichen Knien trat sie zu den Hühnerweibern und teilte ihnen in wenigen Worten ihre Vermutung mit. Die Frauen sahen einander voller Zweifel an, schlössen jedoch das Portal und schlichen erneut zur Speichertreppe. Sarai hatte wenig Skrupel, sie vorangehen zu lassen. Sie taten es, weil die Alten es ihnen befohlen hatten, nicht weil ihnen an Sarais Sicherheit lag.
Vier von ihnen formierten sich vor Sarai, zwei blieben hinter ihr. So huschten sie lautlos die Treppe hinauf. Durch den Spalt unter der Tür fiel kein Licht. Die Doxa des mal'ak Jahve war noch nicht entfacht.
Vor der Tür verhielten sie enggedrängt und horchten. Kein Laut war zu hören. Auf dem Dachboden herrschte Stille.
Das vordere Hühnerweib warf sich mit einem Aufschrei gegen die Tür. Das uralte Holz zerbarst und fiel nach innen. Nacheinander sprangen die Frauen auf den Speicher und rissen Sarai mit sich.
Die erste wurde plötzlich gepackt und mehrere Schritt weit durch die Finsternis gewirbelt. Stöhnend schlug sie mit dem Rücken auf die Bodendielen. Ihre Kappe rutschte vom Kopf und entblößte glattes Haar.
Auch dem
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