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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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berühren. Eine der Hühnerfrauen war aufgesprungen und folgte ihm, ihr Gesicht zur Fratze verzerrt. Der mal'ak Jahve blieb vor der Tür der Golemkammer stehen, dann fuhr er herum und schlug nach der Verfolgerin. Sie aber duckte sich und entging dem Hieb. Noch während die Frau sich bückte, stieß sie ihre Rechte gegen die schwarze Gestalt. Der Bote packte ihren Arm und schleuderte sie achtlos davon.
    Einen Augenblick lang glaubte Sarai, der Bote wolle die Kammer des Golem betreten. Statt dessen aber baute er sich breitbeinig vor der Tür auf, riß seine Gewänder zurück und enthüllte den bodenlosen Abgrund dahinter. Die Doxa stieg wie ein ferner Stern aus der Tiefe empor. Schon kroch ein erster Schimmer über die staubigen Dielen auf Sarai zu.
    Die verbliebene Hühnerfrau plagte sich wimmernd auf die Beine und schleppte sich mit letzter Kraft in Sarais Richtung. Sie zog das linke Bein nach und hatte einen Großteil ihrer Krallen verloren. Die zerrissene Lederkappe entblößte ihr Haar. Ihr Gesicht verriet die Qualen, die sie litt. Sie hatte ihre Gefährtinnen sterben sehen und wußte, daß auch sie selbst die Nacht nicht überleben würde. Trotzdem taumelte sie weiter vorwärts, packte Sarai an der Schulter und schob sich schützend vor sie.
    Die Alten haben es gewußt! durchfuhr es Sarai entsetzt. Man kann einen mal'ak Jahve nicht besiegen, hatten sie gesagt. Sie hatten genau gewußt, was sie taten, alssie die sechs Frauen zu Sarais Schutz abstellten: Sie schickten sie in den sicheren Tod. Ihre einzige Hoffnung war gewesen, daß sie Sarai damit die Gelegenheit zum Schlag gegen den Boten gaben.
    Und was hatte sie, Sarai, getan? Hilflos dagestanden, nicht einmal die Kraft aufgebracht, vor dem mal'ak Jahve die Kammer zu erreichen. Wie hatte sie je hoffen können, über einen Engel zu triumphieren?
    Die Doxa erstrahlte immer heller, schon füllte ihr Licht den Abgrund im Inneren des Boten aus.
    Da wurde plötzlich die Tür der Kammer aufgerissen.
    Von hinten stieß etwas gegen die schwarze Gestalt, sie stolperte, und das Licht der Doxa wurde von den flatternden Gewändern verschluckt.
    Verwirrt starrte Sarai zur Tür. Aber der Golem konnte die Kammer doch nicht verlassen! Dann jedoch sah sie, was tatsächlich geschehen war. Josef hatte die Leiter, die hinauf zu seiner Dachluke geführt hatte, in den Rücken des Boten gerammt. Mochte der mal'ak Jahve auch kein Mensch sein und keinerlei Schmerz empfinden, so geriet er doch aus dem Gleichgewicht.
    Und Sarai nutzte die winzige Verzögerung, die Josefs Angriff ihr gewährte. Sie packte das verletzte Hühnerweib und zog es mit sich auf die Kammertür zu, am gestürzten mal'ak Jahve vorüber, immer schneller, durch den Türrahmen und ...
    Die Frau wurde ihr entrissen. Ein schwarzer Handschuh hatte sich um ihr lahmes Bein gekrallt und hielt sie gnadenlos fest. Sarai stolperte vorwärts durch die Tür in die Kammer, während das Hühnerweib draußen zurückblieb. Heulend wollte Sarai zurückspringen, von neuem nach der Frau greifen, doch da schlössen sich die Arme des Golem um sie und zogen sie tiefer in die Kammer. Mit einem Fußtritt schloß er die Tür.
    Draußen kreischte die Hühnerfrau voller Schmerz und Verzweiflung auf, als der Bote in all seiner Wut über sie kam. Wenige Herzschläge später verstummten ihre Schreie.
    Ruhe kehrte ein. Absolute Stille.
    Der Golem ließ Sarai los und taumelte zurück. Sie fuhr herum und sah, wie er mit dem Rücken gegen die Wand prallte, daran herabrutschte und völlig erschöpft liegenblieb.
    Sarai zitterte immer noch am ganzen Leib. Ein letzter Schrei, den sie vor Grauen nicht mehr herausgebracht hatte, steckte ihr wie ein Kloß im Hals. Nur mit Mühe vermochte sie sich zu beruhigen. Es war ein Kampf gegen sich selbst, die Überwindung ihrer eigenen Furcht. Schließlich aber hatte sie sich soweit in der Gewalt, daß sie die wenigen Schritte bis zum Golem überwinden konnte und vor ihm in die Hocke ging.
    Sein Blick war trübe und fuhr geradewegs durch sie hindurch. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Es konnte doch kaum die Anstrengung sein, die ihn so zu Bodenwarf.
    »Was ist geschehen?« fragte sie mit einer Stimme, die sie kaum mehr als die ihre erkannte. Sie klang hell, viel zu hoch. Es würde eine Weile dauern, ehe ihr Körper ihr wieder völlig gehorchte.
    Der Golem gab keine Antwort.
    »Josef«, sagte sie noch einmal, »was ist mit dir?«
    Seine Lippen lösten sich mühsam voneinander, und ein einziges Wort kroch leise

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