Der Schattenesser
zwischen ihnen hervor:
»Schlaf.« Sarai starrte ihn verwirrt an. »Ich verstehe nicht...« »Kann nicht schlafen«, stöhnte er schwerfällig.
Sie packte ihn an den Schultern. »Du darfst nicht schlafen, Josef, verstehst du?«
Er kniff die Augen zusammen und verzog einen Mundwinkel. Vielleicht war es ein Versuch zu lächeln. Er öffnete von neuem die Lippen, doch kein Laut war zu hören.
»Du mußt mir helfen«, flehte Sarai. »Du darfst mich jetzt nicht allein lassen.« Plötzlich packte sie die entsetzliche Angst, daß er sterben könnte, gerade jetzt, wo sechs Frauen ihr Leben verloren hatten, damit Sarai ihn rechtzeitig erreichte.
Nein, so ungerecht konnte das Schicksal nicht sein.
Was hatte er gesagt? Kann nicht schlafen ...
Und da verstand sie, was er sagen wollte. Der Golem brauchte Schlaf wie jedes andere lebende Wesen. Der Rabbi Löw jedoch hatte ihn mit dem Bann belegt, zu erwachen, sobald und solange die Judenstadt bedroht wurde. Als der mal'ak Jahve vor mehreren Wochen mit seinen Schattenmorden begonnen hatte, war der Golem aufgewacht und hatte seither keinen Schlaf mehr gefunden. Erst wenn der Bote besiegt und die Bedrohung durch ihn abgewendet war, würde Josef wieder Ruhe finden. Aber da er die Kammer nicht verlassen konnte, war er auf die Hilfe anderer angewiesen. Auf Sarais Hilfe.
Sie überlegte fieberhaft: Wie mußte es in einem Wesen aussehen, das wochenlang nicht schlafen konnte, so sehr sein Körper auch danach verlangte? Seine Kräfte, mochten sie auch übermenschlich sein, mußten allmählich versiegen. Der Golem würde den Verstand verlieren. Zum erstenmal wurde Sarai klar, was der Rabbi Löw seiner Schöpfung angetan hatte.
»Ich brauche dich doch«, flüsterte sie, während ihr immer noch Tränen über die Wangen liefen. »Ich kann den Boten nicht besiegen, wenn du mir nicht sagst, wie.«
Der Blick des Golem schien sich zu verdichten, und erstmals hatte sie das Gefühl, daß er sie erkannte. »Woher ... soll ich ... das wissen?«
»Der Rabbi Löw hätte es gewußt.«
»Hätte... nicht.«
»Was?« fragte sie verzweifelt.
»Rabbi hätte es nicht... gewußt. Hilflos gegen ... einen Engel«, krächzte der Golem. »Aber es muß doch einen Weg geben.« »Vielleicht... Aber den kennt keiner auf ... auf dieser Welt.«
»Wer dann?«
»Drüben, auf... der Ebene des mal'ak Jahve.«
Sarai schloß die Augen und ließ die Schultern hängen. Auch ihre letzte Hoffnung erwies sich als Trugbild. Die Hühnerweiber hatten ihr Leben umsonst gelassen. Auch Kaspar würde sterben. Ebenso alle anderen. Und der Golem würde bis zum Ende aller Zeiten wach in seiner Kammer liegen und mit jedem Tag tiefer in Wahnsinn verfallen.
»Ich kann dir ... helfen ... hinüberzugehen«, keuchte
er. Seine Augen verdrehten sich einen Moment lang, als hätte er keine Gewalt mehr über sie, dann heftete sich ihr Blick wieder auf Sarai.
»Wohin?« fragte sie. »In die Welt des mal'ak Jahve?«
»Ins ... Otzar ha-Neschamot. Ins Schatzhaus der Seelen. Dort gibt es vielleicht... eine Lösung.«
Neue Hoffnung keimte in ihr auf. »Und du kannst mich dorthin bringen? Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«
Er flüsterte ein Wort, das sie nicht verstand. »Was sagst du?« fragte sie und beugte sich näher zu ihm vor. »Preis«, stöhnte er noch einmal. »Der Weg dorthin hat... seinen Preis.«
»Welchen?«
Er holte tief Luft, dann sagte er: »Deine Seele, Sarai.«
Sie wandte den Kopf ab, damit er nicht in ihre Augen blicken konnte. Sie fürchtete, er könne das Zögern, das Widerstreben darin bemerken. »Dann wird es mir ebenso ergehen, wie den Opfern des mal'ak Jahve.«
»Ja. Aber du hast ein paar Tage Zeit bis ...«»Bis ich mir selbst das Leben nehme? Das ist es doch, nicht wahr?« Er versuchte zu nicken. »Ja«, sagte er wieder. »Das ist der Preis, den das Schatzhaus der Seelen fordert.«
»Hast du noch die Kraft, mich dorthin zu bringen?«
»Ich... ich habe es dir angeboten, oder?«
»Dann tu es.«
»Willst du nicht wissen, was dich ... im Otzar ha-Neschamot erwartet?« »Antworten, hoffe ich«, erwiderte sie knapp.
Der Golem nickte schwerfällig. Dann streckte er langsam beide Hände aus und legte sie auf Sarais Schläfen.
»Du willst es wirklich?« fragte er noch einmal.
Doch Sarai blieb keine Zeit zu antworten. Sie verlor
im selben Augenblick das Bewußtsein, als seine Worte in ihren Geist vordrangen. Ein seltsamer Nebel erstickte ihre Bedeutung.
Die Reise hatte begonnen.
Sie hörte
Weitere Kostenlose Bücher