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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zweiten Hühnerweib blieb keine Zeit zur Gegenwehr. Eine schwarze Gestalt riß die Frau in die Höhe, hielt sie triumphierend mit beiden Armen in der Luft und schleuderte sie mitten unter die übrigen. Unter Gekreische und Gepolter stürzten und stolperten sie durcheinander.
    Doch damit hatte der mal'ak Jahve seinen Vorteil der Überraschung verspielt. Innerhalb eines einzigen Herzschlags waren die Frauen wieder auf den Beinen. Zweinahmen Sarai in ihre Mitte, während die übrigen zum Angriff übergingen.
    Sarai bemerkte, daß plötzlich etwas auf den Fingerspitzen der Frauen steckte, wie silberne Fingerhüte, aus denen gebogene Stacheln ragten. Hühnerkrallen aus Stahl, fast so lang wie ihre Finger selbst.
    Ihre beiden Beschützerinnen wollten sie zurück zur Treppe drängen, sie aber deutete auf die geschlossene Tür der Golemkammer.
    »Ich muß dort rüber«, verlangte sie.
    Die Frauen sahen sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Unsere Aufgabe ist es, dich zu retten, nicht zu...«
    Sarai unterbrach sie. »Eure Aufgabe ist es, mich in diese Kammer zu bringen. Dort drinnen ist derjenige, der weiß, wie man den Boten besiegen kann.«
    Die vier Hühnerweiber stürzten sich derweil auf den mal'ak Jahve. In einem Halbkreis schössen sie auf ihn zu, die Finger mit den Stahlspitzen vorgestreckt. Noch immer machte der Bote keine Anstalten, die Doxa einzusetzen. Der Machtglanz war eine stille Waffe, deren Wirkung sich erst nach Tagen zeigte. In einem Kampf war ihr Einsatz sinnlos. Vielleicht, schoß es Sarai durch den Kopf, war der mal'ak Jahve nicht so mächtig, wie sie bislang angenommen hatte. Er konnte die Schatten der Menschen verschlingen, doch in einem Gefecht wie diesem war er eine Kreatur wie jede andere.
    Sogleich wurde sie eines Besseren belehrt.
    Der Bote, in der Dunkelheit des Speichers kaum mehr als ein vager Koloß, riß beide Arme in die Höhe. Ehe die Hühnerweiber ihn erreichen konnten, hatte er bereits zwei von ihnen gepackt, eine an der Kehle, die andere am Arm. Seine Finger schlössen sich mit übermenschlicher Kraft. Die eine Frau sackte leblos zusammen, als er ihren Hals zerdrückte; die andere kreischte gellend auf, während der Bote ihr den Arm wie mit einer Zange abriß. Das Körperteil fiel zu Boden, die Frau taumelte zurück. Wie betäubt starrte sie auf ihren Armstumpf, dann sackte sie besinnungslos zusammen.
    Die beiden übrigen Angreiferinnen warfen sich im selben Augenblick auf den mal'ak Jahve und rammten alle zwanzig Stahlklauen in seinen Leib. Sarai sah noch, daß sie auf Widerstand trafen, dann drehte sie sich um und rannte auf die Tür der Kammer zu. Ihre beiden Beschützerinnen zögerten noch einen Augenblick lang, unentschlossen, ob sie ihren Gefährtinnen zur Hilfe eilen oder Sarai folgen sollten. Gegen ihre Überzeugung befolgten sie den Befehl ihrer Führerinnen.
    Der mal'ak Jahve schien die Krallen seiner Gegnerinnen nicht einmal zu spüren. Er drehte den Kopf und bemerkte, was Sarai vorhatte. Wie lästige Kinder schüttelteer die beiden Frauen ab und schleuderte sie zu Boden. Dann rannte er mit riesigen Sätzen auf Sarai zu. Alles, was sie erkennen konnte, war ein gewaltiger Umriß, der auf sie zu jagte .
    Ihre Beschützerinnen lösten sich von ihr und stürmten dem Angreifer entgegen. Hinter ihm rappelten sich die beiden gestürzten Frauen auf und fielen ihm in den Rücken. Vierzig Stahlkrallen gruben sich in seinen Leib.
    Sarai rannte los. Noch zwanzig Schritte bis zur Tür der Kammer. Dahinter war sie sicher. Dorthin konnte ihr der Bote nicht folgen.
    Ein vielstimmiger Schrei ließ ihre Schritte gefrieren. Wie erstarrt blieb sie stehen und schaute sich um.
    Der mal'ak Jahve stand inmitten der vier Frauen, die um ihn am Boden lagen. Eine bewegte sich nicht mehr, der Bote hatte sie in der Mitte durchgebrochen wie ein Stück Holz. Die drei übrigen stöhnten und wimmerten, eine war in ihre eigenen Krallen gestürzt. Unter ihr breitete sich eine dunkle Lache aus. Sarai erinnerte sich an das, was die Rabbiner sie über die Gnade des Herrn gelehrt hatten. Der mal'ak Jahve zeigte weder Sanftmut noch Barmherzigkeit. Stattdessen griff er sich nun die Verletzte, wirbelte sie in die Luft und rammte sie mit dem Kopf gegen einen der unteren Dachbalken.
    Sarai mußte sich zwingen, sich erneut von dem entsetzlichen Geschehen abzuwenden. Sie machte ein, zwei unsichere Schritte in Richtung der Kammer, als plötzlich der schwarze Schemen des Boten an ihr vorüberschoß ohne sie zu

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