Der Schattenesser
Siebensilben!« entfuhr es ihr tonlos.
»In der Tat.«
»Dann sind die Gerüchte wahr!«
»Das entscheide, wenn du der Schechina gegenüberstehst. Du mußt nun gehen.«
»Ja, ich weiß.« »Tritt vor, mein Kind«, sagte ihr Vater.
Sarai zögerte. Ein einziger Schritt reichte aus, sie unausweichlich in den Abgrund zu stürzen.
»Komm«, verlangte die Stimme, »hab keine Angst.«
Sie schloß einen Herzschlag lang die Augen.
»Es tut nicht weh«, sagte ihr Vater. »Du wirst nichts spüren. Tritt einfach nach vorn.«
Sarai richtete ihren Blick auf den flirrenden Wüstenhorizont, dann gab sie sich einen Ruck und setzte einen Fuß in die Leere. Sofort verlor sie das Gleichgewicht und stürzte.
»Gut, mein Kind«, sagte ihr Vater. »Gut.«
Sie fiel, immer tiefer und tiefer, an der Felswand entlang, und das letzte, was sie sah, war ein junger Dornbusch, der verdorrte und in Flammen aufging, als sie an ihm vorüberstürzte.
Als sie erwachte, lagen Josefs schneeweiße Hände immer noch an ihren Schläfen. Sie öffnete benommen die Augen, blickte in die seinen, dann weinte sie.
»Ich habe mit meinem Vater gesprochen«, flüsterte sie.
Der Golem nahm die Hände herunter und nickte wissend. »Es war die Neschama deines Vaters, nicht er selbst.«
»Er hat mich nichts gefragt. Nicht, wie es mir geht. Gar nichts.«
»Weil es für ihn nicht mehr von Belang ist. Dein Vater als Mensch hätte gefragt, seine Seele aber ist nur ein Teil von ihm. Die Neschama hat keine Gefühle für andere. Du bist die Tochter des Körpers deines Vaters, nicht die Tochter seiner Seele.«
Darauf schwieg sie und starrte nachdenklich insLeere. »Hast du die Antworten erhalten, nach denen du gesucht hast?«
Sie nickte und wollte schon erzählen, was sie im Schatzhaus der Seelen erfahren hatte, als ihr plötzlich etwas auffiel. »Du redest wieder klar. So, als ginge es dir besser.«
Seine schmalen, weißen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Es ist mir gelungen, meinen Verfall aufzuhalten. Es wird eine Weile anhalten. Aber nicht lange. Vielleicht bis zum Morgen.«
»Wie hast du das gemacht?« fragte sie, obgleich sie die Antwort bereits ahnte.
»Das habe ich dir zu verdanken«, erwiderte er zögernd, und ihm war anzusehen, daß ihn das Geständnis beschämte. »Ich habe dir, während du im Schatzhaus weiltest, einen geringen Teil deiner Kraft entzogen und auf mich übertragen. Ich weiß, ich hätte dich vorher darum bitten sollen, aber ...«
»Das macht nichts«, sagte sie unberührt. Schon fühlte sie die allererste Folge ihres Seelenverlustes: Sie verspürte keinen Wunsch mehr, sich selbst zu erhalten. Josef hätte ihr beide Ohren abschneiden können, sie hätte die Nachricht ebenso teilnahmslos hingenommen. Es war ihr schlichtweg gleichgültig, was mit ihr geschah. Zugleich war sie sich bewußt, daß sich dieser Zustand während der kommenden Tage verschlimmern würde, bis sie ihrem Leben selbst ein Ende setzte. Genauso wie ihr Vater und all die anderen. Das war der Preis, den das Otzar ha-Neschamot verlangte. Sie hatte ihn akzeptiert.
»Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe«, sagte sie. Zu ihrem Erstaunen brannte die Angst um Kaspar und auch die Sorge um Josef noch genauso heiß in ihr wie zuvor. Allein ihr eigenes Schicksal stand ihr merkwürdig fern. Wohl aber besaß sie noch genug Vernunft, nicht geradewegs ins offene Messer zu laufen; doch selbst das würde sich in den nächsten Tagen legen.
»Ist der mal'ak Jahve noch draußen auf dem Speicher?« fragte sie.
Der Golem schüttelte den Kopf. »Er hat sich zurückgezogen. Vorerst. Er weiß nicht, was du vorhast. Vielleicht vermutet er, du willst dich bei mir verstecken. Ich glaube, es fällt ihm trotz seiner Allmacht schwer, die Gedankengänge der Menschen vorauszuahnen.«
»Ich muß zum Palais Siebensilben«, sagte Sarai. »Hast du gewußt, welche Bewandtnis es damit hat?«
»Ich habe mehr als ein Jahrzehnt geschlafen. Ich weiß nicht, was in dieser Zeit geschehen ist. Vor zehn Jahren gab es noch kein Palais Siebensilben in Prag.«
Sie nickte und schalt sich selbst eine Närrin, Die Arbeiten an dem Gebäude waren bis heute noch nicht abgeschlossen.
Da plötzlich verzog sich das Gesicht des Golem zu einer Grimasse. Es sah aus, als hätte ihn ein unerwarteter Schmerz getroffen.
»Was ist los?« fragte sie besorgt.
»Ich sehe noch eine Gefahr, Sarai. Noch eine Gefahr für die Judenstadt. Gerade in diesem Augenblick geschieht etwas, irgendwo dort draußen.« Sein Blick
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