Der Schattenesser
eine Stimme. Die Stimme ihres Vaters.
»Die Menschenseele besteht aus drei Teilen«, hörte sie ihn sagen, und es war eigenartig, solche Worte aus seinem Mund zu vernehmen. Er hatte nie mit ihr über derlei gesprochen.
»Die drei Teile sind Nefesch, Ruach und Neschama«, fuhr er fort. »Nefesch hat die Aufgabe, den Menschen zu ernähren und zu erhalten. Ruach verleiht ihm die Fähigkeit zum Thora-Studium. Hat er dies vollbracht, wird ihm die Neschama verliehen, die ihm das vollkommene Verständnis der göttlichen Lehren ermöglicht. Die Neschama ist jener Teil des Menschen, der ihn mit Gottes Allmacht verbindet.«
Sarai war, als schliefe sie und träumte. Falls da Bilder um sie waren, so sah sie sie nicht. Sie hörte nur die belehrende Stimme ihres Vaters.
»Die Neschama ist Gottes Essenz im Menschen. Wie das Kind aus der Vereinigung von Mann und Frau entsteht, so hat auch die Neschama eine männliche und eine weibliche Hälfte. Beide warten vereint im Otzar ha-Neschamot, im Schatzhaus der Seelen, auf jenen Augenblick, da der Mensch die nötige Reife aus Ne-fesch und Ruach gewinnt. Dann erst teilt sich die Neschama, ihre männliche Hälfte fährt in einen Mann, die weibliche in eine Frau. Da beide Seelenteile ihre Vereinigung anstreben, müssen Mann und Frau so lange einsam durch die Welt irren, bis sie einander gefunden haben und den Bund fürs Leben schließen. Dann erst gelingt auch den beiden Hälften der Neschama die erneute Vereinigung, und Gott ist diesen Menschen so nahe wie nie.«
Die Worte umkreisten sie, durchdrangen sie, eine fremde Saat in ihrem Geist.
Die Stimme ihres Vaters sprach weiter:
»Im Schatzhaus der Seelen wohnt die Neschama, ehe sie in den Menschen fährt. Doch auch jene Seelen, die dem Menschen entrissen werden, bevor sie zu göttlicher Reife gelangen, kehren hierher zurück, um später anderen zu dienen. Auch deine Seele wird einst in einen anderen Menschen fahren, Sarai, denn du wirst sie im Schatzhaus zurücklassen, wenn du es wieder verläßt falls du es wieder verläßt.« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Und nun, mein Kind, komm mit.«
Der Vorhang ihrer Blindheit teilte sich, und Sarai sah.
Sie stand inmitten einer endlosen Wüste. Ihre Fußspitzen waren nur einen halben Schritt von einer groben Felsenkante entfernt, hinter der ein bodenloser Spalt in die Tiefe stürzte. Sie beugte vorsichtig den Kopf nach vorne und blickte hinunter. Die braunen Felswände waren in unregelmäßigen Abständen mit verdorrten Dornenbüschen bewachsen. Gelbe und rote Flammen tanzten um die Büsche, ohne ihre Äste zu verbrennen. Das feurige Schauspiel reichte bis in die endlosen Tiefen der Kluft, ebenso zu beiden Seiten bis zum Horizont; der Abgrund schien die gesamte Wüste in zwei Hälften zu teilen.
Einer der Dornbüsche an der gegenüberliegenden Wand loderte heller als die übrigen.
»Sarai«, sagte die Stimme ihres Vaters, »eine richtige Antwort erfordert eine richtige Frage.«
Sie blickte direkt in die Flammen des Busches, in der Hoffnung, etwas zu erkennen. Ein Gesicht, vielleicht. Doch da war nichts. Nur zuckendes, züngelndes Feuer.
»Wie kann ich den mal'ak Jahve besiegen?« fragte sie.
»Niemand vermag das«, erwiderte ihr Vater nachkurzem Zögern. Sarai war, als hörte sie im Hintergrund ein leises Raunen. Die Seelen im Otzar ha-Neschamot gerieten in Aufruhr.
»Es muß einen Weg gehen«, beharrte sie.
»Nein«, entgegnete ihr Vater. »Der mal'ak Jahve ist ein Engel des Herrn. Es gibt keine Waffe, die ihn schlagen kann, keine Kreatur, die ihm an Stärke gleichkommt
- nicht in der Welt der Menschen.« »Aber das hier ist nicht die Welt der Menschen.« »Das Schatzhaus existiert zwischen den Ebenen, zwischen eurer Welt und der Allmacht Gottes. Du kannst nichts von hier mit hinübernehmen. Du kannst nur etwas hierlassen. Deine Seele.«
»Aber du kennst etwas, das den Boten vernichten kann?« fragte sie.
»Niemand kann einen mal'ak Jahve vernichten«, sagte er noch einmal. »Er ist so unsterblich wie diese Ebene. Ein Engel kann fallen, kann niederstürzen in das, was die Menschen Hölle nennen. Sie ahnen nicht, daß es nur ihre eigene Welt ist, die sie fürchten. Doch der mal'ak Jahve wird nicht fallen, denn er handelt im Auftrag des Herrn.«
Sarai schwieg und blickte niedergeschlagen zu Boden. »Du mußt nur die richtige Frage stellen«, sagte ihr Vater.
»Die richtige Frage?«
»So, wie ich es dir eben geraten habe.«
Sie überlegte eine Weile, dann sagte
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