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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war in unbestimmte Ferne gerichtet. Er schrie auf: »Der Vogel . Koreh. Ich höre seine Stimme. Unsägliches Leid, schlimmer noch als die Wut der Liga. Ein Massaker! Brennende Häuser! Überall Tote!«
    Ihre eigene Vision kam ihr wieder ins Gedächtnis, die Bilder, die sie im Schattentheater von Leander Nadel-tanz heimgesucht hatten.
    »Was ist es, Josef? Wer trägt die Schuld daran?«
    »Hunderte. Tausende gar. Und ein einzelner Mann, dem sie folgen werden. Er spricht schon zu ihnen, in diesem Augenblick. Du mußt dich beeilen, wenn du das Palais noch erreichen willst.«
    »Ein Krieg?«
    »Viel schlimmer. Es ist nicht die Gier nach Land und Geld, die sie treibt. Es ist Haß, Sarai, purer Haß. Bitte, du mußt gehen. Sofort. Noch sind sie nicht hier, und noch ist auch der mal'ak Jahve fern.«
    Sie stand auf. Ihr ganzer Körper tat weh. Sie streckte eine Hand aus, um dem Golem auf die Beine zu helfen, doch er wehrte ab.
    »Laß mich hier sitzen, Sarai. Ich habe nicht mehr die nötige Kraft. Ich werde auch so wissen, wenn du Erfolg hast.«
    »Du wirst wieder schlafen können.«
    »Ja. Das werde ich.«
    Sie ging noch einmal in die Hocke, umarmte ihn wie einen Bruder, dann wandte sie sich zur Tür. Dort blieb sie stehen und sah sich um.
    »Du bist ein wahrer Mensch, Josef. Die Zeit ist vorbei, in der du das Geschöpf des Rabbi Löw warst. Du bist jetzt du selbst.«
    »Vielleicht«, sagte er leise, »ein wenig.«
    »Leb wohl, Josef.«
    »Lebe wohl.« Sie wußten beide, wie bedeutungslos diese Worte für sie waren.
    Kurz zuvor, während Sarai noch mit den sechs Hühnerweibern durch die Schächte der Judenstadt zur Synagoge eilte, saß Lucius, der letzte Stadtgardist, am Totenbett seiner Frau. Bozena vermochte kaum mehr zu sprechen. Mit jedem ihrer schwachen Herzschläge starb ein weiteres Stück von ihr. Lucius wußte, daß sie den Morgen nicht mehr erleben würde.
    Den ganzen Nachmittag über hatte sie vor Schmerzen geschrien und versucht, sich im Bett umherzuwälzen. Damit aber vergrößerte sie nur ihre Pein. Jetzt lag sie still und hatte die Augen geschlossen. Dann und wann beugte sie den Kopf zur Seite und spuckte schwarzes Blut auf die Tücher, die Lucius ihr unterlegte.
    Er saß auf der Bettkante und redete mit ihr über die Jahre, die sie miteinander verbracht hatten. Die meiste Zeit über sprach er, während sie zuhörte, doch manchmal öffneten sich ihre trockenen Lippen, und das ein oder andere Wort drang hervor. Sie konnte ihn also noch verstehen.
    Als er sagte, daß er sie liebe, da legte sie zitternd ihre Hand auf die seine, und obgleich er in ihren Augen sah, welche Schmerzen sie im Innern ertrug, so gab sie sich selbst jetzt noch Mühe, seine Liebe zu erwidern. Die Erinnerung an die Zeit mit ihr drohten ihn zu überwältigen. Es hatte keine Abenteuer gegeben, keine ungewöhnlichen Ereignisse; es waren vielmehr die Kleinigkeiten, die aus der Vergessenheit emporstiegen und ihn mit längst vergangenen Bildern und Gefühlen quälten.
    Sie weinten gemeinsam, bis ihre Tränen versiegt waren und bis Lucius selbst nicht mehr leben mochte. Er hatte während seiner Jahre als Gardist so viele Sterbende gesehen, so viele, die ihre letzten Worte zu ihm aufhauchten. Stets hatte er dabei den Tod weit von sich geschoben, hatte über seine Empfindungen triumphiert und geglaubt, sein Herz gegen das Ende gerüstet zu haben. Dabei hatte er sich nur selbst belogen.Als Bozena schließlich starb, im selben Augenblick, da viele Straßen entfernt ein Judenmädchen seine dritte Begegnung mit einem Engel hatte, da ließ er ihre Hand lange Zeit nicht los. Auch das Blut, das aus ihrem offenen Mund floß, tupfte er ab, er erneuerte das feuchte Tuch auf ihrer Stirn und deckte sie sorgfältig zu.
    Er hatte sich während der vergangenen Tage Gedanken über die Schuldigen gemacht. Denn daß es Schuldige gab, daran zweifelte er nicht. Er war Stadtgardist, der letzte, und er wußte genau, daß zu jedem Unglück ein Täter gehörte. An den Schattenmorden war er gescheitert - das gestand er sich ein -, doch die Schuldigen an Bozenas Tod, die Schuldigen am Ausbruch der Seuche, sie würden ihm nicht entkommen.
    Auch ihn selbst hatten sie bald auf dem Gewissen. Seit letztem Mittag hustete er regelmäßig dünne Blutfäden empor, doch die Zeichen der Krankheit stellten sich bei ihm viel langsamer ein als bei Bozena und anderen, die ringsum in ihren Häusern starben. Das Schicksal gewährte ihm Aufschub: Bestrafe die Schuldigen, raunte es in seinem

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