Der Schattenesser
mittlerweile gut, auch bevor er ihre Mauer erklommen hatte. Einige seiner Opfer hatten hier gelebt, bevor sie die Flucht vor der Liga ergriffen, und ihre Erinnerung war längst zu der seinen geworden. Nun erkannte er Straßen und Häuser wieder, verband sie gar mit Erlebnissen, die nicht seine eigenen waren und ihm doch so erschienen. Gelegentlich war ihm gar, als wäre er endlich daheim.
Ein eigenartiger Zwang trieb ihn in die Gassen der Judenstadt. Die Flüchtlingsfamilie, die er gegessen hatte, stammte von hier. Als das Heer der Liga sich Prag genähert hatte, waren sie aufgebrochen, um bei Verwandten im Osten Unterschlupf zu suchen. Sie hatten nicht ahnen
können, daß der scheinheilige Verbündete ihres Königs, Bethlen Gabor, das Land dort längst verwüstet hatte.
Die Erinnerungen dieser Menschen lagen ausgebreitet vor ihm, die widersprüchliche, unfaßbare Summe ihrer Gedanken und Gefühle, wie ein Haus, dessen Fassade zusammengesackt war und nun sein Innerstes offenbarte: Gänge, Speicher, Kammern und Keller, aber auch Möbel und Gegenstände, dazu die Türen, Kamine und Treppenschächte. Ein verschlungenes, kaum zu enträtselndes Wirrwarr aus Empfindungen, Begebenheiten, Träumen, Hoffnungen und schlichten Alltäglichkeiten. All das erfüllte Michals Kopf bis zum Bersten.
Seit kurzem erschien ihm auch das Gesicht der alten Frau aus dem Baumhaus - aus dem Hühnerhaus? Hiervon zumindest wußte er, daß es ein Stück seiner persönlichen, ureigenen Erinnerung war. Nichts, das er sich mit dem Fleisch eines anderen einverleibt hatte. Es war ein Stück von ihm selbst, das da in ihm emporstieg und ihm zeigte, daß noch immer ein Teil seiner selbst in diesem Körper hauste.
Das Gesicht wies ihm immer dann den Weg, wenn er selbst sich im Geflecht fremder Wissensstränge zu verstricken drohte. Die alte Frau schien sich gut in der Stadt auszukeimen, denn sie führte ihn zielsicher um Ecken und über Kreuzungen, quer durch die ganze Judenstadt, bis er schließlich an einen prächtigen Palast gelangte.
Das Gebäude war noch nicht vollendet und offensichtlich unbewohnt. Noch fehlten die Fenster, und der Platz am Fuß der Fassade war mit Steinen, Balken, Sand und liegengebliebenen Werkzeugen bedeckt. Die Arbeiter mußten den Ort Hals über Kopf verlassen haben, wahrscheinlich, als es zur Schlacht mit der Liga kam.
Michal stellte sich in einem Hauseingang auf der anderen Seite des Platzes unter. Er wußte nicht, warum die Alte ihn hierhergeführt hatte. Ihre Botschaften hatten sich erst lange nach seiner Ankunft in Prag eingestellt, als habe sie plötzlich etwas bemerkt, womit sie zuvor nicht gerechnet hatte. Als hätte sie eine unverhoffte Witterung aufgenommen, auf die sie Michal nun ansetzte.
Er stand eine Weile lang da, angelehnt im Schütze der Dunkelheit, während der Wind ihm Nieselregen ins Gesicht trieb. Der Platz war menschenleer, und auch in den Fenstern des Palais regte sich kein Leben. Der Bau war vier Stockwerke hoch, mit einem fünften hohen Dachgeschoß. Das Portal, zu dem ein Halbrund breiter Stufen führte, war mit Brettern vernagelt, ebenso alle unteren Fenster. Michal hatte jedoch schon aus der Entfernung eines entdeckt, das nur nachlässig verbarrikadiert war. Falls die Alte es verlangte, würde es nicht schwerfallen, dort einzusteigen. Bislang aber wartete er vergeblich auf ihren Befehl.
Gerade wollte Michal sich aufmachen, um die Gegend zu erkunden, da war er plötzlich nicht mehr allein auf dem Platz.
Jenseits der Regenschwaden ging ein alter Mann gebeugt, aber mit zügigen Schritten auf das Palais zu. Die Nässe hatte sein weißes Haar an den Kopf gepreßt. Er trug ein weites Gewand, das in seiner Vielfarbigkeit einem Gaukler zur Ehre gereicht hätte. Jetzt durchquerte er den Streifen aus Schutt und Bauresten und näherte sich dem Fenster mit den lockeren Brettern.
Das Gesicht der alten Frau entstand vor Michals Augen und gab ihm Befehle.
Er wartete ab, während der Mann vor der Wand des Palais auf einige Steine stieg und schließlich direkt vor dem Fenster stand. Der Alte fuhr mit beiden Händen zwischen die Bretter und schob sie beiseite wie einen Vorhang. Sie waren nur an den oberen Enden befestigt.
Michal setzte sich in Bewegung, während der Manndurch die Öffnung ins Gebäude kletterte. Er überquerte mit eiligen Schritten den Platz, blieb jedoch in der Mitte für einen Augenblick stehen. Aus der Ferne drang Lärm
durch die Nacht, aufgebrachte Schreie, die in den Gassen
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