Der Schattenesser
zusammengekauerte Mädchen wahrzunehmen. Die Männer gesellten sich zu ihren Kameraden, fielen mit in ihre Gesänge ein und ergötzten sich an Trunk und gebratenem Fleisch. Der Schein der drei Feuer tanzte über die Fassade des Palais Siebensilben, doch keine Flamme vermochte die schwarzen Fensterhöhlen zu erhellen. Im Inneren war das Haus unfertig und leer; der Krieg hatte verhindert, daß es vollendet wurde.
Sarai hatte schon früher vom Palais Siebensilben gehört, ohne ihn je wirklich wahrzunehmen. Es gab Gerüchte über den Bau und die Arbeiten daran. Man erzählte sich, der unbekannte Herr, der ihn errichten ließ, hause bereits tief im Inneren des Palais, in einer unzugänglichen Kammer, ganz allein. Die Tagelöhner hatten nicht an das Gerede geglaubt, aber eine Handvoll der Ihren hatte sich auf die Suche nach dem geheimnisvollen Bauherrn begeben. Sie verliefen sich in den labyrinthischen Fluren und Kammern und erkannten selbst nicht wieder, was sie doch mit eigener Hand errichtet hatten. Es schien ihnen, als hätte sich das Gefüge des ganzen Hauses verschoben, und sie irrten drei volle Tage durch das Palais, ehe sie wieder zum Ausgang gelangten. Niemand war in der Lage, den geheimnisvollen Meister aufzuspüren. Trotzdem fanden die Gerüchte, er wohne bereits in der Tiefe des Bauwerks, neue Nahrung. Noch während der Arbeiten begannen die Menschen, das Palais Siebensilben zu meiden. Man machte einen Bogen darum und ging auf der anderen Straßenseite. Man wollte nicht stören, was vielleicht nur schlief.
Sarai hatte keinen Sinn für Legenden wie diese, früher nicht , und ganz bestimmt nicht in dieser eisigen Nacht. Das Blut begann zu trocknen und bildete eine brüchige Kruste auf ihrem Körper. Sie weinte wieder, aber sie tates l eise, damit niemand sie hörte.
Erst viel später, nachdem die berauschten Soldaten sich schlafen gelegt hatten, wagte sie, ihren Weg fortzusetzen. Sie erreichte das Ufer und sprang in die Fluten. Die Kälte hätte sie töten können, doch daran dachte sie nicht. Sie glitt lautlos durch die schwarzen Wellen, zur anderen Seite und dem dunklen Buckel des Hradschin entgegen.
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KAPITEL 2
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Das Skelett schwebte ihnen entgegen, als sie um die Wegkehre kamen. Erst, als nur noch wenige Schritte sie davon trennten, erkannte Michal, daß es aus Papier war . Ein Westwind trug es mühelos vor sich her, denn es war federleicht, obgleich es doch die volle Größe eines Menschen besaß. Von nahem war es beinahe lächerlich. Jemand hatte es mit großem Geschick einem echten Gerippe nachgebildet, und doch war es so deutlich eine Fälschung, daß ihr erster Schreck nun in erleichtertes Lachen umschlug. Vor Michals Füßen fiel das Papierskelett zu Boden und blieb mit verworrenen Gliedern liegen. Nicht einmal der Wind mochte ihm jetzt noch Leben einhauchen, so verrenkt waren die hauchdünnen Arme und Beine. Nadjeschda, Michals Frau, hob das Kind vom rechten auf den linken Arm, ging vorsichtig in die Hocke und berührte die falschen Knochen mit den Fingerspitzen. Die kleine Modja beobachtete das Ding am Boden mit großen Unschuldsaugen. Sie war noch kein Jahr alt, und der Anblick konnte sie schwerlich erschrecken. »Was ist das?« fragte Nadjeschda, stand wieder auf und hob das Papiergerippe dabei mit spitzen Fingern in die Höhe. Michal sah sich mißtrauisch um. Der Waldrand zu beiden Seiten des Pfades schien verlassen. »Lieber wüßte ich, woher es kommt«, sagte er finster. Der Weg machte etwa fünfzehn Schritte vor ihnen eine sanfte Biegung nach rechts. Das seltsame Skelett war von dort herangetrieben, und nur der Zufall hatte verhindert, daß es sich nicht schon früher im Unterholz verfangen hatte.
Die Wälder waren dicht, zu dicht, als daß man hätte hindurchgehen können. Michal hätte es vorgezogen, mit seiner Frau und der Kleinen im Verborgenen zu bleiben und die Pfade zu meiden, aber er wollte weder Nadjeschda noch Modja den Weg durch das dornige Gesträuch zumuten. Sie waren auch so geschwächt genug, alle drei, und ein Ende ihrer Flucht war noch immer nicht abzusehen. Überall konnten die Barbaren Bethlen Gabors lauern.
»Vielleicht ist es ein böses Omen«, sagte Nadjeschda mit schwacher Stimme und ließ das Gerippe angewidert fallen.
»Mach uns nur Hoffnung«, entgegnete Michal ärgerlich, »genau das, was wir brauchen.«
Sie sah ihn an und verzog den Mund zu einem Schmollen. Nicht einmal der Krieg hatte das Mädchenhafte aus ihren Zügen vertreiben können.
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