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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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weinen begonnen, als er fortgegangen war, und sie beruhigte sich erst, als er ihr sanfte Koseworte ins Ohr flüsterte. Nadjeschda beobachtete die beiden liebevoll. Der Krieg war die eine Sache, der Zusammenhalt ihrer kleinen Familie eine andere. Sie mußten es nur bis Pragschaffen, dort erwartete sie die Sicherheit der königlichen Truppen.
    Seit einer Woche war kein Bote aus der Hauptstadt mehr bis zum Gutshof vorgestoßen. Bethlen Gabors Männer mußten sie abgefangen haben. Vielleicht legte König Friedrich auch schlichtweg keinen Wert auf die Benachrichtigung der böhmischen Landadeligen, zumal, wenn sie wie Michal und Nadjeschda russischer Abstammung waren und ihre Güter fern im Osten lagen.
    In Michals Augen bedeutete Prag ihre Rettung, Schutz und Geborgenheit vor Gabors Mordbrennern. Wenigstens Nadjeschda und das Kind mußten durchkommen, ganz gleich, was mit ihm selbst geschah. Das hatte er sich geschworen.
    Gemeinsam gingen sie zur Lichtung. Der Abend dämmerte, und dies war ein guter Ort zum Übernachten. Es gab sogar einen schmalen Bach, eigentlich nur ein Rinnsal, der am Waldrand durch ein Kiesbett plätscherte. Es war längst an der Zeit, Modjas Windel zu säubern.
    Später, als die Sonne längst untergegangen war und die Kleine schlief, nahm Michal Nadjeschda in den Arm. Sie hatten ihre Mäntel abgelegt und daraus ein Lager für Modja geformt. Das Bündel mit ihren spärlichen Vorräten - Beeren, trockenes Brot und ein halbvoller Leder-schlauch mit Milch für das Kind - lag nahebei. Ihre einzige Decke mußte für alle drei ausreichen, doch sie wagten nicht, ein Feuer zu entfachen. Michal und Nadjeschda froren erbärmlich; zumindest Modja aber hatte es zwischen den Mänteln leidlich warm. Der November hatte ein Einsehen und verzichtete auf Regen.
    »In Prag will ich es warm haben«, sagte Nadjeschda hoffnungsvoll und blickte zu den Sternen am Himmel empor. »Ich will heißen Tee trinken, ein ganzes Faß davon, und ich will Fleisch und Gemüse essen.»
    »Das wirst du«, erwiderte er, »soviel du nur willst.«
    »Glaubst du das wirklich?«
    »Natürlich.«
    »Bethlen Gabors Männer sind überall. Sie könnten ganz in der Nähe sein.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Dann werden wir uns weiter vor ihnen verstecken.«
    »Modja ist zu klein für eine lange Reise«, sagte sie traurig. »Wir müssen uns beeilen, sonst wird sie sterben.«
    Sie sagte das ganz sachlich, beinahe ohne Gefühl. Aber er wußte, welche Ängste sie im Innern ausstand. Ihre Tochter war alles, was ihnen geblieben war. Ihre eigenen Eltern waren tot, der gesamte Besitz verbrannt. Michal hatte mitansehen müssen, wie Soldaten den Kopfseines Vaters auf eine Lanze steckten, seine Haare anzündeten und die grausame Trophäe wie eine Fackel durch die Nacht schwenkten.
    »In Prag sind die Dächer aus Gold«, flüsterte er.
    Sie lächelte. »Nicht wirklich, Dummkopf. Sie sehen nur so aus.« »Macht das einen Unterschied?« »Nein, nicht wirklich.« Sie waren beide noch nicht in der Stadt gewesen,
    kannten ihre Straßen und Türme nur aus Erzählungen. Es war fraglos ein Ort, um glücklich zu sein.
    Michal zählte dreißig Jahre, Nadjeschda dreiundzwanzig. Sie waren einander versprochen gewesen, seit sie Kinder waren, doch ihre Väter hatten ein ganzes Jahrzehnt um die Mitgift gefeilscht. So lange hatten sie warten müssen.
    »Ich werde ein Geschäft eröffnen«, sagte Nadjeschda entschlossen. Ihre Fingerspitzen trommelten sanft auf seiner Brust. »Ich werde Stoffe und Kleider verkaufen, und du kannst im Lager die Ware stapeln.«
    »Das denkst du dir so. Für mich die schwere Arbeit, was?«
    »Du bist der Mann.«
    »Eben deshalb. Ich züchte Pferde, und du sorgst dich um den Haushalt.« Nadjeschda tat empört. »Ich bin ein Mädchen von Adel.« »Höchste Zeit, daß du anpacken lernst.« Er versuchte vergeblich, ernst zu bleiben. Sie kicherte und hämmerte verspielt mit den Fäusten auf ihn ein.
    »Du weckst die Kleine«, warnte er lachend und verstand zugleich die Welt nicht mehr. Um sie herum versank das Land in Blut und Asche, und sie lagen hier und tollten wie zwei unbeschwerte Kinder im Gras, trotz der Kälte, trotz der Gefahr.
    Nadjeschda warf einen Blick auf Modja. Das Mädchen schlief friedlich zwischen den Mänteln.
    »Was meinst du?« wisperte sie sanft in Michals Ohr.
    »Wenn unsere Worte sie nicht wecken, wird es dann etwas anderes tun?«
    Als Michal erwachte, ruhte die Sonne noch hinter den Bäumen, aber erste Helligkeit floß träge

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