Der Schattenesser
Papiermacher lächelnd. »Haus gleich hinter den Bäumen.«
»Ihr habt ein Haus?« Michal spürte plötzlich neue Hoffnung. Wo ein Haus war, da mochte es auch Nahrung geben und - zumindest für den Augenblick – auch Sicherheit. Sein Mißtrauen schwand endgültig. Dem Kind würde es guttun, sich wieder an einem Feuer zu wärmen.
»Seid eingeladen«, sagte Zdenek, als hätte er Michals Gedanken erraten. »Haus warm und groß genug.«
Michal sah Nadjeschda an. Sie nickte, obgleich sich ihr Vertrauen in den merkwürdigen Alten sichtlich in Grenzen hielt. Aber auch sie dachte wohl an das Kind und wie sehr es Wärme und Behaglichkeit brauchte.
»Wir nehmen Eure Einladung gerne an«, sagte Michal schließlich.
Das Lächeln des Papiermachers wurde breiter. » Sehr schön , sehr schön. Müßt berichten, müßt erzählen. Essen sollt.«
Mit diesen Worten wandte er sich um und sprang zurück ins Unterholz. »Folgen sollt, folgen sollt!« Sein Schatten zog sich von Nadjeschda zurück und verschwand mit seinem Besitzer zwischen den Bäumen.
»Er ist verrückt«, sagte sie, als Michal neben ihr stand und sie dem Alten nachschauten. »Verrückt wie >gefährlich< oder verrückt wie >kauzig« fragte er zweifelnd.
»Der Krieg tut den Menschen seltsame Dinge an«, entgegnete sie düster. »Wir sollten achtgeben.«
»Mit ihm nehme ich es dreimal auf«, sagte Michal, aber er meinte es keineswegs protzig. Der dünne Zdenek mochte kaum mehr Gewicht besitzen als eines seiner Papiergerippe.
Sie folgten dem Alten ins Unterholz. Es war nur ein schmaler Waldstreifen, wie sie nun erkannten, kaum zwanzig Schritte breit, wohl aber dicht und verwoben. Bald schon sahen sie das Licht der anderen Seite und standen schließlich am rückwärtigen Teil von Zdeneks Haus.
Das Anwesen des Papiermachers - und ein Anwesen war es in der Tat - überraschte sie durch seine Größe und die Zahl seiner Anbauten. Bis zum Einfall der Horden Bethlen Gabors mußten hier viele Menschen gearbeitet haben. Stapel von Baumstämmen flankierten die Rückwand und einen Großteil der Wiese zwischen Haus und Waldrand.
»Holz zum Papiermachen«, erklärte der Alte, der ein ganzes Stück vor ihnen ging. »Verrottet jetzt. Mache kein Papier mehr. Tot die Helfer. Tot oder fort oder beides.«
Michal zählte drei Anbauten, die vom zweigeschossigen Haupthaus abzweigten. Sicher die Papiermühlen. Eines der Nebengebäude war abgebrannt, die übrigen jedoch schienen unversehrt. Irgendwo rauschte Wasser.
Vor einigen der Holzstapel saßen Papiergerippe, ein gutes Dutzend. Zdenek hatte je einen ihrer Arme hocherhoben an die Stämme genagelt. Die Hände flatterten im Wind. Es sah aus, als winkten sie ihnen zu.
Michal nahm Nadjeschda bei der Hand, sagte aber nichts. Er wußte nicht, was er von dem Alten und seinen sonderbaren Skeletten halten sollte.
Modja hatte aufgehört zu weinen. Aus ihrem kleinen Mund drang ein gleichförmiger Singsang aus dunklen, tiefklingenden Silben. Ihr Blick hing gebannt am Haus des Papiermachers.
Sie betraten das Gebäude durch eine zweiflügelige Hintertür, ohne einen Blick auf die Vorderseite werfen zu können. Gleich dahinter lag ein großer Raum, dessen gesamte Einrichtung zertrümmert am Boden lag: Stuhlbeine und Lehnen, zerbrochene Tische, ausgerissene Schranktüren und Truhendeckel, Berge von zersplitterten Holzplatten. Einst mußte dies ein Wohnraum gewesen sein, dann waren offenbar die Plünderer eingefallen.
Auf den Trümmern saßen fünfzig oder sechzig Papiergerippe. Zwei Dutzend weitere hingen wie Marionetten an Fäden von der Balkendecke. Manche sahen aus wie erstarrt in einem geheimnisvollen Tanz, Arme und Beine zu seltsamen Gesten verrenkt.
Zdenek war stehengeblieben und sah seine Gäste erwartungsvoll an.
»Hab' alle allein gemacht, ganz allein«, sagte er. »Viel Arbeit, aber Mühe wert. Viel Gesellschaft, jetzt.«
»Habt Ihr keine Familie mehr?« fragte Nadjeschda stockend. Modja wollte sich aus ihrem Griff freistrampeln, doch es gelang ihr nicht. Nadjeschda preßte sieschützend an sich.
Zdenek schüttelte traurig den Kopf. »Hab' keine Familie mehr. Frau und Tochter tot. Von Soldaten verbrannt. Vorne, vor dem Haus.«
Michal fühlte Mitleid mit dem alten Mann. Zdenek war ebenso ein Opfer des Krieges wie sie selbst, wie Tausende anderer auch. Seine Familie, wahrscheinlich auch seine Arbeiter, waren allesamt niedergemacht worden. Kein Wunder, daß so viel Leid seinen Geist verwirrt hatte. Aber so irre der Papiermacher
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