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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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über den Himmel. Sie mußten weiterziehen, jetzt gleich. Nadjeschda lag eng an ihn geschmiegt und regte sich müde. Modja machte gurrende Laute. Sie wartete auf ihre Milch. Michal wollte aufstehen, als sein Blick auf einen nahen Baum fiel.
    Zwischen den Wurzeln saß ein Skelett aus Papier.
    Jemand hatte es so ausgerichtet, daß es aussah, als schaue es zu ihnen herüber. Die Papierhände lagen auf zwei Wurzelsträngen wie auf Armlehnen, der dünne Rücken lehnte am Stamm. Die Winkel des Gebisses waren mit Tinte nachgezogen, so daß der Schädel hämisch grinste. Michal spürte, wie ein eisiger Schauder über seinen Rücken kroch.
    Nadjeschda hatte es ebenfalls entdeckt. Der Schrecken verschlug ihr die Sprache.
    Michal schaute sich angestrengt um, aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Er stopfte das schmutzige Hemd in den Hosenbund und ging auf das Skelett zu. Jeden Augenblick erwartete er, daß jemand aus dem Unterholz auf ihn zuspringen würde, eine oder mehrere Gestalten. Hinter ihm begann Modja zu weinen. Nadjeschda nahm sie in den Arm und preßte sie schützend an ihre Brust.
    Michal erreichte den Baum und hob das Papiergerippe vom Boden. Es hatte nahezu kein Gewicht. Irgendwer trieb seine Scherze mit ihnen.
    Mit einem Ruck fuhr er herum, ließ das Skelett ins Gras fallen und eilte zurück zu den anderen.
    »Los, kommt«, sagte er, »wir müssen hier weg.«
    »Aber die Milch ...«, begann Nadjeschda.
    »... muß warten«, entgegnete er. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.«
    Modjas Weinen schwoll zu einem lauten Jammern an. Nadjeschda versuchte vergeblich, sie zu beruhigen, während Michal ihre Sachen ins Bündel schnürte.
    »Ihre Wickel...«, sagte Nadjeschda, verstummte aber, als ihr klar wurde, wie ernst es ihm war. Dafür war später Zeit. Sie kam sich unsagbar dumm vor: Michals Sorgegalt ihrem Leben, ihre nur einer schmutzigen Windel.
    Die drei waren im Begriff aufzubrechen, als hinter ihnen eine Stimme sagte: »Schaudert und fürchtet und sucht. Dabei braucht das doch nicht länger, nicht schaudern, nicht fürchten, nicht suchen. Gehört nicht zu jenen, nicht wahr? Liebe nicht die, die zu jenen gehören.«
    Michal raste herum und hob den Knüppel. Nadjeschda warf schützend den Mantel um das Kind in ihrem Arm. Beide starrten kreidebleich über die Lichtung nach Osten.
    Da stand ein kleiner, dünner Mann am dunklen Waldrand und betrachtete sie neugierig. Weder sein Blick noch seine Haltung verrieten Feindseligkeit. Er stand hinter einem Baumstamm, hatte Kopf und Oberkörper hervorgeschoben und wirkte scheu, fast furchtsam.»Gehört doch wirklich nicht zu jenen, oder?« fragte er noch einmal.
    Michals Blick streifte die umliegenden Baumreihen, suchte nach weiteren Menschen, doch da war niemand. Der kleine Mann war offenbar allein. Michal aber hatte zu viel Hinterlist und Tücke erlebt, um dem friedlichen Anschein zu trauen.
    Der Mann bemerkte seine Sorge. »Name ist Zdenek«, sagte er versöhnlich. »Zdenek, der Papiermacher.«
    »Hast du dieses ... Ding dorthin gesetzt?« fragte Michal und deutete auf das Gerippe am Fuß des Baumes.
    Der alte Mann nickte stolz. »O ja«, erwiderte er. »Zdenek, der Papiermacher, hat es gemacht. Ausgeschnitten und geleimt. Hingesetzt, beim Schlaf.«
    Seine merkwürdige Art zu sprechen verwirrte Michal. Sicher meinte der Alte, als sie geschlafen hatten, nicht er selbst. Zdenek war Tscheche, das hörte man an seiner Betonung der Worte, doch die Weise, wie er sie anordnete oder ganz unterschlug, schien Michal eher Marotte als Akzent.
    »Gehört nicht zu jenen, ja?« fragte der Alte nunmehr zum drittenmal.
    Michal schüttelte endlich den Kopf. »Wenn du die Soldaten aus Siebenbürgen meinst, nein, zu denen gehören wir wohl kaum.«
    Das Mißtrauen des Papiermachers schwand sofort; er trat vollends hinter dem Baumstamm hervor, kam auf sie zu und blieb in fünf Schritten Abstand stehen. Hinter ihm, über den östlichen Wipfeln, schob sich die Sonne empor. Zdeneks Schatten stach spitz wie eine schwarze Messerklinge über die Lichtung und fiel auf Nadjeschda und die Kleine. Michal sah es mit einem sonderbaren Gefühl im Magen, doch Nadjeschda schien es nicht zu bemerken . Einen Herzschlag lang fühlte er den heftigen Drang, sie zu warnen, wollte, daß sie beiseite und aus Zdeneks Schatten trat, dann aber fand er die Regung albern.
    »Seid Ihr allein, Herr Zdenek?« fragte er.» Allein bis auf meine Gerippe«, entgegnete der

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