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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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versichern.«
    »Doch«, beharrte Zdenek, »o doch. Jemand gibt es.«
    »Wer sollte das wohl sein?«
    »Die alte Hex.«
    Michal und Nadjeschda wechselten einen verstohlenen Blick. Es hatte offenbar wenig Sinn, weiter mit Zdenek über diese Dinge zu sprechen. Trotzdem konnte Michal sich eine weitere Frage nicht verkneifen:
    »Von welcher Hexe sprecht Ihr?« »Nicht Hex-e!« widersprach der Mann. »Nur Hex. Die alte Hex.«
    »Lebt sie hier im Wald?« fragte Nadjeschda beunruhigt, aber ihre Sorge galt eher dem Alten als der Gefahr, die er in seinen wirren Worten heraufbeschwor.
    »Lebt nicht, stirbt nicht«, erwiderte er überzeugt. »Ist die Baba Jaga, die alte Hex in ihrem Haus auf Hühnerbeinen. Reitet darin auf Schweif von Tod. Sagt man sich, sie folgt dem Morden und Brennen durch die Wälder. Hat sie gesehen, drüben, an Grenzen.« »Ihr habt die Baba Jaga gesehen?« fragte Michal.
    »Nicht Zdenek, ist nur alter Papiermacher. Aber
    Flüchtlinge, die vor Euch kamen. Sahen Baba Jaga in Haus auf Hühnerbeinen, wie es über Schlachtfeld trampelt. Alte Hex steht in Tür und fegt alle Toten in Kessel rein. Kocht feine Suppe, Baba Jaga, ganz gewiß.« Er kicherte.
    Michal wußte um die Legende von der Baba Jaga, so, wie ein jeder in den östlichen Ländern sie kannte. Einst war sie eine Todesgöttin, doch ein Zauber bannte sie im Körper einer alten Frau. Sie lebte, so hieß es, in einer hölzernen Hütte, die auf einem Paar baumhoher Hühnerbeine durch die Wälder galoppierte. Auch vermochte sie in ihrem eisernen Kessel durch die Lüfte zu fliegen, während darunter die Erde verdorrte und die Menschen starben. Doch die Sage von der Baba Jaga war nur ein Märchen wie all die anderen, überliefert, um Kindern angst zu machen. Wäre alles anders gekommen, hätte er die Geschichte in einigen Jahren vielleicht Modja erzählt: Sei artig, sonst holt dich die Baba Jaga in ihr Hühnerhaus!
    »Eure Gäste wollen die Baba Jaga also gesehen haben?« vergewisserte er sich noch einmal, obgleich Zdenek es doch längst b estätigt hatte.
    »Ja, ja, ja«, rief der Papiermacher aufgebracht. »Alte Hex wurde an der Grenze gesehen. Kam aus dem Ungarischen rübergeritten.« Er formte mit Mittel- und Zeigefinger ein paar Beine und ließ sie über den Boden springen. »Auf Hühnerbeinen kommt sie daher und zerstampft alle Lebenden und Leichen.«
    Nadjeschda legte eine Hand auf Michals Unterarm. »Sollten wir nicht bald aufbrechen?« fragte sie mit Nachdruck. »Es ist noch so weit bis nach Prag.«
    Bevor Michal antworten konnte, rief der Alte: »Besser bleibt hier! Wartet mit Zdenek auf Baba Jaga. Hex erlöst alle von Schrecken des Krieges. Keine Angst mehr, weil dann eins mit Baba Jaga. Eins mit Göttin im Hühnerhaus.«
    »Du hast recht«, sagte Michal an Nadjeschda gewandt. »Wir müssen weiter.«
    Sie erhoben sich, bemüht, daß es nicht zu übereilt wirkte. »Habt Dank, Herr Zdenek«, sagte er mit betonter Höflichkeit.
    »Halt!« schrie der Alte schrill. »Bleiben hier, bis Baba Jaga kommt. Bleiben bei Zdenek.«
    Erstaunlich behende sprang er auf die Füße und vertrat ihnen den Weg zur Tür. »Wißt ja nicht, was tut. Soldaten dort draußen, Tod überall. Nicht sicher im Wald. Sicher nur bei Zdenek.«
    »Wir wollen so schnell wie möglich nach Prag«, sagte Michal sanft, doch im Grunde war er erschrocken über die Vehemenz, mit der Zdenek sie vom Gehen abhalten wollte. Noch immer glaubte er nicht, daß der Alte eine Bedrohung bedeutete - trotz der Papiergerippe und trotz des Gefasels über die Hex. Der Papiermacher war nur ein alter, verbitterter Mann, dem die Trauer den Verstand raubte.
    »Nicht gehen!« beharrte der Mann ohne zur Seite zu weichen. Statt dessen trat er zurück, bis er vollends den Türrahmen versperrte. Die hastige Bewegung schuf einen Luftstoß, der einige der Skelette mit scheinbarem Leben erfüllte. Ihre Glieder wehten gespenstisch, eines erhob sich gar für einen Moment von seinem Platz, brach aber wieder zusammen. Vor allem jene, die an Fäden von der Decke hingen, begannen zu schaukeln und zu beben, als stemmten sie sich gegen ihre Fesseln.
    Michal bemerkte die Sorge auf Nadjeschdas Gesicht. Was sollte er jetzt tun? Den Alten beiseite stoßen? Das wäre angesichts seiner Gastfreundschaft nicht nur unhöflich, sondern geradezu gefährlich für das gebrechliche Männlein gewesen.
    »Wir danken Euch für Eure Sorge, braver Herr, aber wir wollen es trotz allem versuchen«, sagte er mit betonter Ruhe, von der er

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