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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Kinderstimmen, Flüche, Tellerscheppern. Selbst die Geräusche hatten seit dem Einfall der Liga eine andere Qualität bekommen: Die Kinder spielten leiser, die Flüche tönten derber, und Teller klirrten immer seltener, denn das Essen wurde knapp.
    Sarai drückte die Tür hinter ihnen zu und wollte gedankenlos den Riegel vorschieben, ehe ihr einfiel, daß sie selbst ihn zerbrochen hatte. Die Tür blieb angelehnt.
    Sie führte Cassius durch die beiden vorderen Räume und entschuldigte sich für die Unordnung, als gäbe es nichts anderes, das ihr Sorgen machen müßte. Es war, als drängte etwas die Ereignisse in einen abgelegenen Teilihres Denkens, alles schien ihr wie im Traum. Sie trieb durch das Schicksal einer Fremden, nahm Dinge ohne Bedeutung wahr, als hinge ihr Leben davon ab.
    Dir Vater saß noch ebenso zusammengesunken in seinem Lehnstuhl wie in der Nacht zuvor. Sarai brachte es nicht über sich, einen längeren Blick auf den Leichnam zu werfen. Ihre eigene Trauer widerstrebte ihr zutiefst, und sie wollte auf gar keinen Fall weinen, wenn Cassius zusah.
    Der Alte in seinem bunten Mantel beugte sich nachdenklich über den Toten. Sarai beobachtete ihn von einem Platz hinter der Lehne aus. Das Stirnrunzeln des Alchimisten vertiefte sich, er hob einen steifen Arm des Leichnams und blickte darunter. Schließlich streckte er sich, murmelte etwas und nickte, als er einen Gedanken faßte. Dann sagte er:
    »Dein Vater hat keinen Schatten mehr, Sarai.«
    Verwirrt starrte sie ihn über den Stuhl hinweg an. »Wie meinst du das?«
    Er holte tief Atem und stieß ihn ebenso lautstark wieder aus. »So, wie ich es sage, mein Kind. Der Leichnam deines Vaters wirft keinen Schatten. Nicht den geringsten.«
    »Ich weiß nicht, was ihr Mystiker unter Keinen-Schatten-Werfen versteht, Cassius.«
    Seine Antwort klang ungeduldig, fast ein wenig zornig. »Himmel Herrgott, Sarai - es geht hier nicht um Mystizismus. Komm her und sieh ihn dir an. Er hat keinen Schatten mehr!«
    Die Erkenntnis, daß er das wortwörtlich meinte, traf sie mit schrecklicher Wucht. Cassius drückte sich gelegentlich gern in Bildern und Symbolen aus. Aber diesmal meinte er es tatsächlich ernst.
    Kein Schatten!
    Sie sprang aufgeregt um den Stuhl herum. Der Anblick ihres toten Vaters hatte nichts an Grauen verloren, und sogleich krallte sich der Kummer um ihr Herz. Im Tageslicht sah er noch verzweifelter, noch verletzlicher aus. Dabei gab es doch nichts mehr, das ihm jetzt noch wehtun konnte. Er war all dem entkommen. Durch seine eigene - und durch Sarais - Hand.
    Obgleich sie spürte, daß Tränen in ihre Augen traten, zwang sie sich, den Leichnam genauer zu betrachten. Es hatte keinen Sinn, sich länger zu verstellen, und so ließ Sarai ihrem Leiden freien Lauf. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr daran, sich vor Cassius schämen zu müssen.
    Ihr Vater war mit getrocknetem Blut bedeckt. Das Kleid ihrer Mutter, das er trug, war zerknittert, der Stoff lag in Wellen. Trotzdem wirkte die Oberfläche seltsam gleichförmig, fast faltenlos. Irgend etwas war anders als sonst , doch wenn Cassius ihr zuvor nicht gesagt hätte,
    was es war, sie hätte es niemals bemerkt. Alles um ihn
    herum war hell, wie ausgeleuchtet. Dabei ging von ihn selbst kein Licht aus, nicht wie von Geister n oder ande ren überirdischen Erscheinungen. Merkwürdig war vielmehr das Fehlen von Dunkelheit. Cassius hatte recht: Ih r Vater warf keinen Schatten, nicht in den Falten des Klei des, nicht dort, wo sein Körper den Stuhl berührte, nirgends.
    Sie wußte nicht, was sie stärker verwirrte: Der seltsame Anblick oder der Umstand, daß es ihr von allein« nicht aufgefallen wäre. Sie fragte sich, ob auch andere ihren Schatten längst verloren hatten und es nur nicht bemerkten.
    Sie griff nach der Hand ihres Vaters, hob sie hoch Auch darunter - nichts. Ebenso unter seinem Kinn, in den Kniekehlen, an seinen Füßen.
    Sarai wollte einwenden, daß es an einem ungewöhnlichen Spiel des Tageslichts liegen mochte, doch ehe sie noch sprechen konnte, bemerkte sie den Schatten des Stuhls am Boden. Rückenlehne, Armstützen und Stuhlbeine warfen dunkle Umrisse auf das abgetretene Parkett, nur nicht der Tote. Demnach sah es aus, als stünde dort ein leerer Stuhl.
    »Wie ist das möglich?« fragte sie tonlos. Vor fassungslosem Erstaunen versiegten sogar ihre Tränen.
    Cassius legte eine Hand auf ihre Schulter und führte sie zur Tür des Zimmers. Von dort aus mußte sie den Anblick der Leiche nicht

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