Der Schattenesser
waren, nur nicht menschlich. Doch der Gedanke daran brachte sie nicht mehr zum Schaudern. Sie hatte in den wenigen Stunden, die seither vergangen waren, Schlimmeres erlebt: das Gefühl des Messergriffs in ihrer Hand, als sie ihn aus der Brust ihres Vaters zog.
Cassius bemerkte ihren aufkeimenden Widerspruch und sagte schnell: »Ich weiß. Vieles ist in den letzten Tagen geschehen, und du wirst mich fragen, weshalb gerade diese Frauen mit dem Schattenmörder zu tun haben sollen, nicht wahr?«
»So ungefähr, ja.«
»Und ich kann nur antworten: mein Gefühl. Nenn es Spürsinn. Oder Verrücktheit. Aber wir müssen irgendwo ansetzen. Und wenn wir einmal die Liga als Ursache des Schattensterbens ausklammern, dann bleibt nicht viel, was für Aufsehen in Prag gesorgt hat - außer den Hühnerweibern.«
»Wenn es aber doch die Truppen des Kaisers sind?«
»Welchen Sinn sollte das haben?«
»Du bist der Weise, nicht ich.«
»Eben. Und deshalb sage ich: Wir müssen erfahren, was es mit diesen Frauen auf sich hat.«
Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. »Wie wollen wir beginnen?«
»Mit unserem ersten Hinweis: Die Frauen müssen aus Prags besten Kreisen stammen.«
Sarai stand auf, blickte noch einmal verächtlich auf die Reste des gebratenen Hühnereis und ging dann im Turmzimmer auf und ab. »Wie soll uns dieses Wissen helfen? Willst du die Fürsten und Barone fragen: Welche von Euren Frauen gehören dazu? Cassius, Prag befindet sich mitten im Krieg. Die Palais werden geplündert, die hohen Herren suchen mit ihren Familien das Weite. Alles, was wir finden werden, sind ausgebrannte Ballsäle und verlassene Pferdeställe.«
»Nicht ganz«, hielt Cassius dagegen. »Die meisten von ihnen haben Prag vor der Schlacht verlassen, das ist wahr. Aber alle übrigen sind an den einzigen Ort geflohen, der ihnen Sicherheit versprach: auf den Hradschin. Sie alle sind hier in der Burg, nur durch ein paar Mauern von uns getrennt, Sarai.«
»Aber die Burg ist ebenso in der Hand der Liga wie die Stadt«, widersprach sie, längst nicht überzeugt von seinen Worten.
»Natürlich. Und all die Edlen, die sich hierher zurückzogen, haben sich den neuen Machthabern verpflichtet. Jeder versucht, sein Leben und wenigstens einen Teil seiner früheren Rechte und Besitzungen zu retten. Deshalb sind sie alle mit wehenden Fahnen zum Kaiser und seinem Lakaien Maximilian von Bayern übergelaufen. Kaiser Ferdinand residiert im fernen Wien, aber Maximilian nimmt alle Versöhnungsangebote und Ergebenheitserklärungen persönlich hier auf dem Hradschin entgegen.
Die Barone und reichen Händler, die Adeligen und Ratsherrn stehen Schlange, um sich ihm zu unterwerfen. Sie sind alle hier, Sarai, hier oben bei uns auf der Burg. Und mit ihnen ihre Weiber.«
»Du glaubst wirklich, die Baronessen werfen sich insgeheim Federmäntel über, färben sich das Haar rot und klettern wie Hühner auf Balken umher?« Sarais Stimme triefte jetzt nur so von Spott. »Überhaupt, das Haar: Müßte es ihren Gatten nicht auffallen, wenn die edlen Damen plötzlich ihre Schädel kahlscheren, bis auf einen roten Kamm?«
»Nun, in der Tat«, gab Cassius zu. »Aber bist du denn sicher , daß es wirklich ihr Haar war - und ihre Kopfhaut? Vielleicht tragen sie etwas wie Mützen oder Kappen, das ihr echtes Haar verbirgt.«
Sarais Zweifel waren damit keineswegs ausgeräumt. »Aber warum, Cassius? Warum?« »Siehst du«, erwiderte er und lächelte, als hätte er endgültig den Sieg davongetragen, »genau das ist es doch, was wir herausfinden müssen: Weshalb verkleiden sich diese Frauen als Hühner?«
»Und wie willst du das anstellen?«
Cassius strahlte. »Du, meine Liebe, wirst sie fragen.«
Die Rauchsäulen, die aus Gassen und Höfen zum Himmel aufstiegen, sahen aus, als stützten sie die schwarzen Gewitterwolken, die brodelnd über den Dächern dräuten. Aber vielleicht, so überlegte Lucius, waren es auch gar keine Gewitterwolken. Vielleicht sammelten sich dort oben nur Asche, Gestank und Seelen (schwarze Seelen?), um irgendwann wie ein Schwamm über die Erde zu wischen und Prag von ihrem Antlitz zu tilgen. Lucius Gerbberg - Stadtgardist Seiner Abgesetzten Majestät Herzkönig Friedrich und demnach im Ungewissen, ob er überhaupt noch Stadtgardist war, und falls ja, wem er diente, ob den alten oder den neuen Herrschern - dachte über das nach, was bald seinen Grabstein schmücken sollte. Er wünschte sich eine besondere Inschrift: >Hier ruht Lucius Gerbberg, ehrenhaft
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