Der Schattenesser
hatte fast drei Dutzend Gräber von Selbstmördern öffnen lassen, und in einigen war er fündig geworden: Die Leichen warfen keine Schatten.
Und seither wußte er nicht mehr, was schlimmer war: seine Tage, die an Bozenas Sterbebett begannen, oder die Nächte, in denen ihn die Träume heimsuchten. Träume von entsetzlichem Blutvergießen, von Menschenmassen, die sich gegenseitig niedermachten. Schlachtvieh ohne Schatten.
Lucius wußte nicht, was es damit auf sich hatte, und so hatte er als erstes Bozena davon erzählt, vor Tagen schon. Erst, als sie ihn nicht sofort für verrückt erklärte, hatte er auch mit seinen Obristen darüber gesprochen. Sie aber hatten ihn ausgelacht und verspottet. Trotzdem hatte er seine Nachforschungen, bis zur Schlacht am Weißen Berg, auf die übliche Weise vorangetrieben: Befragung von Zeugen und Verdächtigen, Untersuchungen der Räume und Unterkünfte, in denen sich die Opfer getötet hatten, alles, was dazu gehörte. Doch seit Prag in der Hand der Liga war, hatten sich die Schwierigkeiten vervielfacht. Die Stadtgarde war in den ersten Stunden nach der Niederlage aufgelöst worden. Alle hochrangigen Gardisten hatte man hingerichtet oder eingekerkert, die übrigen verkrochen sich in ihren Häusern.
Nur Lucius ging weiter seiner Aufgabe nach. Bevor die Krankheit ihn selbst holen würde, wollte er den Mörder finden, um jeden Preis. Bozena sagte, er sei besessen, aber sie bemühte sich, dabei zu lächeln, trotz ihrer Schmerzen, und er wußte, daß sie ihn verstand. Er mußte wissen, wer den Menschen die Schatten nahm. Und er betete, daß die Träume aufhören würden, wenn er die Wahrheit erkannte.
Daß er von dem dreizehnten Toten erfuhr, war reiner Zufall. Oder besser: Es sah aus wie Zufall. Doch Lucius war längst überzeugt, daß ein höherer Wille jeden seiner Schritte führte. Der Wille desjenigen, der ihn antrieb, der ihm immer wieder Mut gab, das Quartier zu verlassen, selbst wenn Bozena fast an ihrem Blut erstickte. Derselbe fremde Wille, der ihm geraten hatte, am Morgen in die Judenstadt zu gehen.
In einem Seitenweg der Geistgasse hatte er beobachtet, wie zahlreiche Menschen eine Wohnung ausräumten, wie sie Möbel und andere Dinge in die umliegenden Häuser schleppten. Er war den Plünderern gefolgt - keine Söldner diesmal, sondern ehrenwerte Nachbarn und war schließlich in einer geräumigen Unterkunft auf die Leiche eines Mannes gestoßen. Der Tote lag auf seinem Bett, während gierige Hände seine Besitztümer fortschleppten. Er brauchte sie nicht mehr, das war auch Lucius' Ansicht, sollte damit geschehen, was wollte. Seine Aufmerksamkeit galt allein dem Leichnam. Einem Leichnam ohne Schatten.
Lucius wunderte sich natürlich, daß der Tote saubere Kleidung trug, obgleich doch sein Körper bedeckt war von getrocknetem Blut. Auch war die tödliche Stichwunde deutlich in seiner Brust zu sehen, das Hemd darüber aber war unversehrt. Jemand hatte den Toten umgekleidet.
Die Kleidertruhen des Mannes waren längst gestohlen, ihren Inhalt hatte man über dem Boden verstreut. Viele Stücke gehörten einer Frau. Der Tote hatte also nicht alleine hier gelebt.
Einige Nachbarn berichteten Lucius nach mancher Drohung mit der Macht des Königs (dabei kam weder ihnen noch Lucius in den Sinn, daß der König längst außer Landes war), daß der Mann mit seiner Tochter in dem Quartier gelebt habe. Früher habe es auch eine Frau gegeben, die Mutter der Kleinen, aber sie sei ermordet worden, damals, während der Krönungsfeier in den Straßen.
Lucius verlangte zu erfahren, wer den Leichnam entdeckt hatte.
Darauf erntete er Schweigen.
Er fragte noch einmal.
Immer noch Stille.
Lucius packte den Mann, dem er gegenüberstand, am Kragen, schrie zugleich dessen Frau und Kinder an, siesollten sich gefälligst fernhalten, dann prügelte er so lange auf sein Opfer ein, bis es Blut und Zähne spuckte. Die Frau konnte schließlich nicht mehr länger zusehen, wie der fremde Stadtgardist ihren Mann mißhandelte, und so verriet sie alles, was Lucius wissen wollte. Demnach hatte ein Fleischer den Toten entdeckt.
Was für ein Fleischer, wollte er wissen.
Ein ritueller Schlächter, erklärte die Frau, der die Juden mit reinem Fleisch versorge, Fleisch von Wiederkäuern mit gespaltenen Klauen und von Fischen mit Flossen und Schuppen. Alle anderen Tiere seien nicht >koscher<,sagte sie. Der Fleischer zerlege die Tiere unter strenger Einhaltung des Rituals und achte darauf, daß kein krankes
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