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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verstorben im Dienste für das Königreich. Er ehrte seine Vorgesetzten - selbst dann noch, als sie längst auf Pfählen neben den Stadttoren steckten, einen Pflock im Hinterteil, in das er sie dereinst so oft zu treten wünschten Das Grabmal für diesen Spruch würde groß werden, zu groß, dachte er bedauernd, und wer sollte den Steinmetz für seine Arbeit entlohnen? Kürzer also mußte es sein, einprägsamer: >Lucius Gerbberg, die Pflicht war ihm Bedürfnis. < Oder schlicht: >Gerbberg, L., tot.< Aber, so dämmerte es ihm, das war wohl selbstverständlich, und was mit Verstand zu tun hatte, das widersprach der Dienstauffassung eines Stadtgardisten
    - so es nach seinen Obristen ging. Die aber waren nun tot, und die Spitzen, die früher aus ihren Schandmäulern kamen, um ihn zu verspotten, waren jetzt aus massivem Holz.
    Die Ironie, die dieser Beobachtung innewohnte, hätte ihn fast zum Lachen gebracht. Zum Lachen aber war Lucius keineswegs zumute. Er jagte ein Gespenst. Und zu Hause lag seine Frau im Bett und starb.
    Was immer Lucius auch denken mochte, er tat es, um sich abzulenken.
    Bozena lag im Sterben. Und das gleiche, das sie töten würde, tötete auch ihn. Ihm schwindelte, sein ganzer Körper war von einem entsetzlichen Jucken befallen. Rechts und links seines Halses konnte er leichte Schwellungen ertasten, und unter seinen Achseln hatte er ein halbes Dutzend dunkler Flecken entdeckt. Am Morgen hatte er zum erstenmal Blut gespuckt.
    Bei Bozena hatten sich die Merkmale erstmals vor vier Tagen gezeigt. Sie hatte 'kaum noch gehen können, so sehr drehte sich die Welt vor ihren Augen. Immer wieder wurde sie von Trugbildern genarrt. Lucius war Soldat, sogar zum Stadtgardist berufen, aber er besaß nicht das geringste Wissen über Krankheiten und ihre Anzeichen. Deshalb hatte er Anselma Plecnik, die Frau des Mediziners, gebeten, ihrem Mann auszurichten, er möge dringend ins Quartier der Gerbbergs kommen.
    Das war vor drei Tagen gewesen. Der Arzt hatte sich seither nicht sehen lassen. Wie alle Männer seines Standes hatte er genug damit zu tun, die Verletzten der Schlacht zu versorgen, Männer, die für ihr Vaterland gekämpft hatten. Gewöhnliche Kranke mußten warten. Und was, so fragte Frau Plecnik, könne wohl so schlimm sein wie ein abgeschlagener Arm, aufgerissene Bäuche und zerfetzte Gesichter?
    Dem hatte Lucius nichts entgegenzusetzen, und Bozenas Behandlung wurde verschoben. Doch ihr Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag, die dunklen Flecken nahmen zu, jetzt überall am Körper, und das Blut, das sie spuckte, war schwarz wie Pech.
    Seit gestern Abend war Lucius sicher, daß sie sterben würde. Und auch sie ahnte es längst. Beide wußten nicht, woran, aber daß eine Krankheit wie diese nur mit dem Tod enden konnte, daran gab es keinen Zweifel. Dreimal hatte Lucius in der Nacht bei den Plecniks geklopft, doch die Frau hatte immer nur beteuert, ihr Mann sei unterwegs, um die Opfer der Schlacht zu versorgen, und vor übermorgen werde sie ihn wohl selbst nicht zu sehen bekommen. Dann aber, so versprach sie, wolle sie ihn gleich hinüberschicken.
    Zwei andere Mediziner, um die Lucius sich in den angrenzenden Vierteln bemüht hatte, waren gleichfalls nicht zu Hause. Sie leckten die Wunden des Krieges.
    Lucius hatte vor ihren Türen geschrien und geheult, doch alles, was man ihm zur Antwort gab, war ein Nachttopf, den man über ihm am Fenster entleerte.
    Seitdem wußte er, daß es keine Hilfe geben würde. Bozena würde sterben. Vielleicht heute noch, oder morgen.
    Sie hatte ihn angesteckt, und er war dankbar dafür. Er würde ihr kurze Zeit später folgen, ganz gleich, wohin. Der Gedanke hätte ihn beruhigen sollen, doch das tat er nicht. Lucius klammerte sich ans Leben. Nicht, weil er nach sechsundvierzig Jahren noch allzu große Offenbarungen erwartete. Nein, er wollte seine Jagd zu Ende bringen. Die Jagd nach einem Mörder, den es eigentlich nicht gab. Denn alle Opfer hatten ihrem Leben eigenhändig ein Ende gesetzt. Über ein Dutzend bisher. Dreizehn Männer und Frauen. Natürlich war es absurd. Die Ligasöldner tobten durch Prag, und Leichen türmten sich an den Straßenecken . Hunderte starben täglich unter katholischen Klingen, und andere töteten sich aus Angst und Verzweiflung selbst. Es sprach wenig dagegen, daß die dreizehn,
    die Lucius für die Opfer eines Mörders hielt, nicht aus ähnlichen Gründen gehandelt hatten.
    Erst nach dem fünften oder sechsten Toten war ihm etwas aufgefallen. Er

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