Der Schattenesser
wankten und die Dächer zerfielen. Ich sah etwas durch die Straßen stelzen, etwas Gewaltiges, nur ein Schemen auf zwei Krallenbeinen, der alles unter sich zermalmte.«
Konnte es sein, daß ihr eigener Traum ebenfalls die Zukunft und nicht die Vergangenheit gezeigt hatte? Einen Moment lang erwog sie, Cassius davon zu erzählen, dann aber tat sie es als Zufall ab. Außerdem: Den riesigen Schemen, den Cassius gesehen haben wollte, hatte sie nirgends bemerkt. Es konnte sich also nur um zwei ähnliche, nicht aber übereinstimmende Träume handeln.
»Und was hat dieser Traum mit dem Tod meines Vaters zu tun?« fragte sie.
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte er nachdenklich, »aber mir war, als hätten all die Menschen, die sich da gegenseitig massakrierten, keinen Schatten gehabt. Wenn auf einen Schlag alle Menschen die drei aristotelischen Fähigkeiten der Seele verlieren - Selbsterhaltungstrieb, Streben nach Höherem und Vernunft -, was kann dann anderes daraus entstehen als Krieg und Verwüstung? Wenn keiner sich selbst und den anderen achtet, welches Ende kann das nehmen? Nur die gegenseitige Vernichtung.«
»Aber schau dich doch nur auf den Straßen um«, entgegnete Sarai. »Überall herrschen Mord und Totschlag. Die Söldner der Liga ziehen plündernd und mordend durch Prag - und nicht einer von ihnen hat seinen Schatten verloren. Es ist gar nicht nötig, daß irgendwer ohne Seele ist - nicht einmal die Tugenden des Aristoteles bewahren all die Menschen davor, sich gegenseitig auszulöschen.«
»Der Krieg, den ich im Traum sah, war von anderer Art , Sarai.« Cassius ließ sich schwer in einen Stuhl fallen. »Es war nicht einmal ein wirklicher Krieg. Es ging nicht um Besitz oder Macht oder sonstigen Gewinn. Was ich sah, war Töten um des reinen Tötens willen. Der höchstmögliche Auswuchs der Zerstörung, denn es war eine Zerstörung ohne Grund. Die Menschen hatten kein Ziel, außer jenes, sich gegenseitig niederzumachen und alles zu zerstören, was sie je geschaffen hatten, wie eine Schlange , die den eigenen Schwanz verschlingt, ohne zu wissen, warum.«
Sarai versuchte, sich zu erinnern, ob die Menschen in ihrem Traum Schatten geworfen hatten, aber sie konnte sich nicht entsinnen. Sie sah nicht das eigentliche Geschehen vor sich, wie so oft nach einem Traum, vielmehr vermochte sie nur noch die Gefühle in sich wachzurufen, die sie beim Anblick der Bilder verspürt hatte. Nur noch ein Widerhall, ohne jede Einzelheit.
Schließlich fragte sie: »Du glaubst also, daß der Schattenmörder erst mit seinem Werk begonnen hat?«
»Möglich. Ich weiß es nicht. Aber ich bin jetzt sicher, daß jemand etwas unternehmen muß, um ihn aufzuhalten.«
»Und das sind wir?«
»Ich«, sagte er fest.
»Mit meiner Hilfe.«
»Wenn du dazu bereit bist.«
Sie schüttelte den Kopf so heftig, daß ihr Haar wie ein Derwisch um ihr Gesicht wirbelte. »Bin ich nicht. Aber was bleibt uns anderes zu tun? Was bleibt mir zu tun? Alles, was ich weiß, habe ich von dir gelernt, Cassius. Lesen, schreiben, verstehen. Ich bin deine Schülerin.«
»Wenn du möchtest, entbinde ich dich davon.«
»Nein.« Und insgeheim dachte sie: Wenn ich schon nicht wirklich um meinen Vater trauern kann, dann will ich ihn wenigstens rächen. Lieber Himmel, rächen - was für ein albernes Wort. Sie war noch ein halbes Kind, und niemals war sie sich dessen bewußter gewesen als jetzt. Doch Cassius bot ihr die Möglichkeit, es zu versuchen. Sie war es ihrem Vater und - mehr noch - ihrer Mutter schuldig. Die meisten Menschen, die sie kannte, hatten nicht einmal das versuchen gelernt. Sarai schon, und das hatte sie Cassius zu verdanken. Sie stand auch in seiner Schuld.
»Gut«, sagten beide gleichzeitig und mußten unwillkürlich lachen. Doch auch dieser Hauch von Frohsinn vermochte die Schatten eines Traumes ohne Schatten nicht zu vertreiben.
»Weshalb glaubst du, die Hühnerfrauen hätten damit zu tun?« fragte sie, um ihre Gedanken von sich selbst abzulenken.
»Ich weiß nicht, ob wirklich ein Zusammenhang besteht«, gestand Cassius ein, »aber fest steht, daß ich die ersten Berichte über die Hühnerweiber hörte, als auch die ersten Toten ohne Schatten aufgefunden wurden. Aber, wie ich schon sagte, alles, was ich zu Ohren bekam, mögen Gerüchte gewesen sein.«
Sarai dachte zurück an den Anblick der unheimlichen Frau, an den Schädel, kahlgeschoren bis auf einen roten Haarkamm. An das sond erbare Federkleid. Und an ihre Bewegungen, die alles
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