Der Schattenesser
lief zum Fenster und spie das Wasser hinaus in den Garten.
»Die Wächter werden sich freuen«, sagte Cassius.
»Wie konntest du das tun?« fragte sie angewidert und empört.
»Was?« erkundigte er sich mit Unschuldsmiene. »Das Ei braten? Nun, ganz einfach: Ich habe es aufgeschlagen, auf die Platte über dem Feuer gegossen und ...«
»Hör auf, mich zu verspotten«, verlangte sie zornig.
»Ich will nicht wissen, wie du es gemacht hast, sondern warum?«
»Du hast doch nach dem Wie gefragt, oder?«
»Laß das, Cassius, und gib mir eine vernünftige Antwort.«
Das Ganze schien ihn aufs Äußerste zu belustigen, denn er bemühte sich nicht einmal mehr, sein Kichern zu unterdrücken. Schließlich aber sagte er, ernster geworden: »Es ist ein Ei wie jedes andere, Sarai, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Hühnerfrau hat es nicht selbst gelegt.«
Sie stemmte sich entrüstet mit beiden Händen auf die Tischkante. »Was macht dich da so verdammt sicher, Meister Cassius?«
»Ich habe es untersucht. Es sah aus wie ein gewöhnliches Ei, es roch wie eines und« - er deutete auf ihren Platz - »offenbar schmeckte es auch so.«
Sarai überlegte einen Augenblick, fand mit der Zungenspitze ein Stück Eiweiß zwischen den Zähnen und spuckte es angeekelt zu Boden. »Und was heißt das deiner Meinung nach?« fragte sie.
»Daß auch die Hühnerfrauen nur mit Wasser kochen«, erklärte er. »Es ist wie mit den meisten Erscheinungen, überirdischen Kräften und magischen Vereinigungen: Im Großen und aus der Ferne betrachtet, wirken sie übermäßig beeindruckend und wunderbar, doch untersucht man ihre kleinsten Teile, bemerkt man schnell, daß das meiste nur Illusion ist. Nimm nur die Kirche: Da faselt sie ach-wie-heilig von Christi Leib und Blut , doch in Wirklichkeit macht ihre Hostien nur der Brotbäcker an der Ecke.«
»Du hast diese Frau nicht gesehen, Cassius«, beharrte sie. Ihr selbst dagegen stand das unheimliche Bild allzu klar im Gedächtnis.
»Nein, allerdings«, stimmte er zu. »Aber wenn sie uns wirklich mit einem gemeinen Hühnerei angst machen will, dann scheint sie mir äußerst erbärmlich.«
»Wer sagt denn, daß sie uns ängstigen will?« gab Sarai zu bedenken.
Er seufzte übertrieben. »Aber, mein Kind, du willst doch nicht abstreiten, daß dieses Ei als Symbol gedacht war, oder? Und was sonst soll ein solches Symbol wohl ausrichten, als uns zu erschrecken?«
Sarai lachte. »Ich kann mich gut genug an dein Gesicht erinnern, um zu wissen, daß ihr das sehr wohl gelungen ist.«
Cassius grummelte etwas Unverständliches, holte dann tief Luft und sagte: »Mag sein. Trotzdem glaube ich, daß die Frau nicht damit gerechnet hat, daß du das Ei mitnehmen würdest. Wahrscheinlich dachte sie, du suchst vor lauter Angst sofort das Weite.«
»Da kennt sie den Hunger der gemeinen Massenschlecht.« »Eben«, bestätigte Cassius. »Und genau das ist der Punkt, auf den ich hinauswollte.«
Sie blickte ihn verständnislos an.
»Dieses Ei«, erklärte er, »scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, wo wir diese Hühnerweiber zu suchen haben. Oder besser: in welchen Kreisen! Niemand aus der armen Bevölkerung Prags könnte ernsthaft annehmen, ein anderer würde ein Ei wie dieses nicht einstecken. In den oberen Schichten aber, in den Häusern der Reichen und Mächtigen, mag man ein Ei für so wertlos halten, daß man durchaus einer solchen Fehleinschätzung erliegen könnte.«
Sarai dachte für einen Augenblick nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Und was, bitte, soll uns diese wunderbare Entdeckung nützen?«
Cassius wirkte fast ein wenig beleidigt. Offenbar hatte er größere Begeisterung erwartet. »Nun ...«, sagte er zögernd, »irgendwie müssen wir doch beginnen, nichtwahr?«
»Womit denn beginnen, um Himmels willen?«
»Mit unseren Nachforschungen. Du willst doch wissen, wer deinen Vater auf dem Gewissen hat.«
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Erst gestern hast du gesagt, daß du nichts damit zu tun haben willst.«
Sein Blick irrte verlegen durch den Raum und wandte sich schließlich dem Papageienkäfig zu. Saxonius starrte gleichmütig zurück. »Sagen wir einfach, ich hatte heute nacht einen Traum, der mich umgestimmt hat.«
»Was für ein Traum war das?« fragte sie, denn sogleich traten ihr wieder die eigenen Visionen vor Augen.
Cassius zögerte einige Herzschläge lang, dann sagte er : »Ich sah den Untergang der Stadt. Ein Blutbad in den Straßen . Ich sah, wie die Türme
Weitere Kostenlose Bücher