Der Schattenesser
Vogel so lange fliegen lassen«, fügte er hinzu. Dun war selbst nicht klar, warum er sich so sehr um das Tier sorgte. Es gab wahrlich anderes, das ihn kümmern sollte.
Der Riese nickte erneut und öffnete die Hand. Der kleine Sperling blieb sitzen und blickte vorwurfsvoll zum Gesicht seines Herrn empor.
»Säht's?« fragte der Zwerg. »S'Veeglein fihlt sich wohl.«
Da spreizte das Tierchen die Flügel und flatterte munter in die Höhe. Einen Augenblick später ließ es sich auf der linken Schulter des Schlächters nieder, und dort blieb es während des ganzen Gespräches seelenruhig sitzen.
»Was also wollt's vom Sohn?« wollte der Zwerg wissen.
Lucius löste seinen Blick beinahe widerwillig von dem Sperling und erklärte den beiden, um was es ging. Er sagte, man habe ihm zugetragen, daß der Schlächterden Toten entdeckt habe.
Der Riese nickte, und der Zwerg sagte: »Des stimmt wohl.«
»Ist ihm etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Der Zwerg kicherte. »Kennt ruhig direkt zu ihm sprechen. Tut's einfach, als weren mir nicht anwäsend.«
Der Riese gab seinem Vater merkwürdige Zeichen mit den Händen, ohne das Messer fortzulegen. Weitere Blutstropfen flogen glitzernd umher.
Der Zwerg erklärte: »Er meint, er hätt sich nix Ungewähnliches gesähn. Mann war halt tot gewäs'n, sagt'r. Nix sonst.«
»Was hat er ...«, begann er, verbesserte sich dann aber: »Was hast du überhaupt dort gewollt?«
Der Zwerg gab Antwort, ohne daß der Riese eineHand gerührt hätte. »Sohn gäht frih morgens von Tir zurTir, wägen die Leut, die Fleisch ha'm wolln. Tir vom toten Mann war nich richtig zu gewäsen, deshalb is sich Sohn reingegangen. Wollt nachschauen , ob wes passiert war.«
Lucius nickte. Etwas in seinem Kopf versicherte ihm, daß der Schlächter die Wahrheit sagte. Der Riese schien wirklich nichts über den Tod des Mannes zu wissen. Zudem war die Leiche eiskalt gewesen, als Lucius darauf stieß; der Mann mußte demnach schon am Abend oder in der Nacht gestorben s ein, nicht erst am Morgen. Für gewöhnlich hätte Lucius bei Nachbarn überprüfen müssen, ob der Riese wirklich erst morgens im Haus gewesen war, aber er glaubte ihm auch so. Es wäre seine Pflicht gewesen, sich abzusichern, doch Lucius war kein Stadtgardist mehr. Er wollte es nur nicht wahrhaben.
Die Träume mußten aufhören. Er mußte den Mörder finden.
Lucius bedankte sich knapp bei dem Schlächter und ließ sich vom Zwerg hinausführen. Im Fortgehen sah er noch, wie der Sperling wieder in die offene Pranke des Riesen hüpfte. Einen Augenblick später ertönte von neuem das Klatschen des Fleischermessers.
»Habt ja nich viel gefragt«, stellte der Zwerg fest, als er Lucius die Tür öffnete. »Ehrliche Bürger haben von der Garde nichts zu befürchten«, erwiderte Lucius steif. »Wohl wahr, wohl wahr«, nuschelte der Kleine. »Falls weitre Fragen aufträten, fihlt's frei, zurickzukommen.«
Lucius nickte und warf einen prüfenden Blick ins Freie. Die Söldner waren verschwunden. Kein Mensch weit und breit. Das war gut so.
Er grüßte förmlich zum Abschied, dann drückte der Zwerg die Tür hinter ihm zu. Lucius stand alleine vor dem Haus und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Die Flecken unter seinen Achseln juckten entsetzlich. Er mußte sich eingestehen, daß all seine Nachforschungen erfolglos waren. Er hatte es mit keinem gewöhnlichen Mörder zu tun, und gewöhnliche Methoden brachten kein Ergebnis. Was sonst aber blieb ihm zu tun, als die Befragungen fortzuführen?
Er machte sich auf den Weg zurück zur Geistgasse. Vielleicht hatte einer der Nachbarn, mit denen er noch nicht gesprochen hatte, etwas bemerkt, das ihm weiterhelfen würde.
Im Grunde war ein jeder von ihnen verdächtig, schließlich waren sie Juden, alle miteinander. Lucius mochte die Juden nicht. Hieß es nicht, sie brachten an ihren Festtagen Menschenopfer dar? Lucius war nicht sicher, was er von solchen Gerüchten halten sollte. Spurenhatte er noch keine entdeckt, die den Vorwurf gerechtfertigt hätten. Er hatte auch nie gehört, daß ein anderer seiner Garde auf handfeste Beweise gestoßen wäre. Trotzdem wollte sein Mißtrauen nicht weichen. Er hatte nie Geld bei einem Juden leihen müssen und hatte nie Streit mit einem von ihnen gehabt. Seine Abneigung saß tiefer. Hatte nicht gar sein Großvater gern damit geprahlt, als Kind hätte er einem Rabbi den Bart angezündet?
Herrgott, das Jucken trieb ihn in den Wahnsinn! Jetzt auch noch im Nacken. Er kratzte
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