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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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aus der Ferne unsichtbar, so, wie man Fische im Sturm nicht sieht. Daß aber dort etwas lebte, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Michals Versteck lag oberhalb des Lagers auf einem Berg, eine Höhlung im dichten Unterholz am Waldrand. Er wußte nicht viel über Kriegsführung, doch daß Bethlen Gabor, der grausame Fürst Siebenbürgens, seine Männer ausgerechnet in diesem Tal lagern ließ, schien ihm sonderbar. Zwar waren sie hier vor den Blicken vorbeiziehender Heere geschützt; doch hatte der Feind sie erst entdeckt, gab es aus dem tiefen Kessel kein Entkommen. Daß der Haufen trotzdem hier seine Zelte aufgeschlagen hatte, konnte nur bedeuten, daß Gabor nicht mit Feinden rechnete. Die Angriffe der Liga würden sich weitestgehend auf Böhmens Hauptstadt beschränken, soweit ins Umland drangen sie nicht vor. Die Soldaten des Königs hatten mit Prags Verteidigung genug zu tun, als daß sie gegen die Plünderer draußen im Land ziehen konnten. Michal stellte voller Abscheu fest, daß die Rechnung Bethlen Gabors aufging: Man hatte ihn zur Hilfe gerufen, und er war mit Tausenden von Soldaten über Ungarn nach Böhmen gekommen. Statt aber in die Kämpfe einzugreifen, nutzte er die Not der Menschen, um die Landgüter und Bauernhöfe zu plündern. Niemand war da, der sich gegen ihn stellte.
    Michal sprach oft in Gedanken mit Modja und Nadjeschda. Dann sah er sie neben sich durchs Dickicht eilen. Nadjeschda hielt die Kleine im Arm und flößte ihr warme Milch ein. Sie lachten und scherzten miteinander, bis sie sich plötzlich in Luft auflösten, und Michal wiederalleine war. Danach weinte er oft für Stunden. Die Tränen verschleierten seinen Blick, und der Weg durch die Wälder wurde noch beschwerlicher.
    Seit zwei Tagen, seit dem Feuer im Haus des Papiermachers, hatte er nicht nach hinten geblickt. Er wußte, daß er auf seinem Weg nicht alleine war. Auch ohne die Baba Jaga zu sehen, war er doch gewiß, daß sie hinter ihm war. Manchmal, wenn die Wälder um ihn in Stille versanken, glaubte er in weiter Ferne das Brechen von Ästen zu hören, das Bersten von Stämmen, und die Welt schrie auf vor Schmerz, wenn sich die riesigen Krallen ins Erdreich gruben.
    Sein Vorsprung war groß, und doch folgte sie ihm. Er legte die Fährte, auf der sie durch die Wälder tobte, aber er wußte nicht, war er Beute oder Wegbereiter. Jagte sie ihn, weil er der Flammenhölle entgangen war, weil erlebte und seine Familie tot war? Oder duldete sie ihn und schonte sein Leben, so lange er ihr den richtigen Weg wies?
    Er sah noch einmal hinab auf das Lager Bethlen Gabors, dann machte er sich auf den Weg. Er mußte nur die richtige Fährte legen, dann würde sie ihm folgen, mittenunter die Soldaten, die Modja und Nadjeschda getötet hatten . Der Tod würde ihnen herrlich erscheinen, im Angesicht dessen, was Michal ihnen brachte. Er spürte ein Kribbeln in den Mundwinkeln, ein stetes Ziehen, erst sanft, dann immer heftiger, und schließlich begann er zu lachen, leise, listig, gemein.
    Er jauchzte vor Erleichterung, als er endlich ins Tal hinabrannte. Sie sollten ihn hören, sollten ihn sehen. Er mußte sie nur lange genug hinhalten, Zeit gewinnen, bis der Boden dröhnte und das Hühnerhaus sich über dem Bergkamm erhob, schnaubend und schwarz vor den stürmenden Wolken.
    Er rannte und lachte, er schrie den Soldaten seine Verachtung entgegen, als trüge er die Fackel der Zerstörung in Händen; doch die Fackel war er selbst, die Flammen brannten in ihm und ließen ihn erglühen vor Haß und vor Wahnsinn.
    Die Wachen waren zu verblüfft, um ihn aufzuhalten, eilten statt dessen hinter ihm her, mit klirrenden Waffen und staunenden Augen.
    Michal drang tief in ihr Lager vor, ehe sie ihn zu fassen bekamen. Aber er lachte noch immer, lauter und lauter, denn er wartete auf die Ankunft des Hühnerhauses, fröhlich wie ein Kind, fiebernd wie ein Liebender.
    Sie töteten ihn nicht auf der Stelle, und das war der größte Gewinn, den er erhoffen konnte. Leben war Zeit, und Zeit war Rache. Ihr Zögern war sein Sieg.
    Die Männer, die ihn zu Boden stießen, nach Waffen abklopften und schließlich wieder auf die Füße rissen, wirkten finster und verschlagen. Gut, dachte er, das macht es noch leichter, sie zu hassen. Ihr aller Haar war schwarz, fast mit einem Stich ins Blaue, und schwarz waren auch ihre buschigen Augenbrauen und langen, spitzen Schnurrbarte, die aussahen wie angeklebt. Sie trugen einfache Kleidung, nicht die Geckenkostüme deutscher

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