Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
sich, bis seine Fingernägel blutig waren, doch es brachte kaum Linderung. Zumindest hatte er seit heute morgen kein Blut mehr gehustet.
    Zurück in der Geistgasse setzte Lucius seine Befragungen fort. Immer wieder trat ihm Bozena in den Sinn, Bozena im Bett, bedeckt von dunklen Pusteln.
    Er kratzte sich erneut. In seinem Schädel drehte sich die Welt. Wie betäubt ging er von Tür zu Tür. Die Pest ging schweigend neben ihm.
    Unter dem Dach der Altneu-Synagoge träumte der Mann Josef einen Wachtraum vom Schlafen. Ihm war, als liege er ganz ruhig da, entspannt und ohne Sorgen, ganz so wie jeder andere Mensch. Um ihn, so stellte er sich vor, war völlige Dunkelheit. Da waren keine Gedanken, die ihn quälten, nur Wärme und Geborgenheit. Keine bösen Gesichter, nur Schlaf.
    Doch natürlich schlief er nicht wirklich. Er konnte es nicht, so sehr er sich auch mühte. Er lag da, lang ausgestreckt, und seine Augen waren geschlossen. Mochte er auch noch so sehr versuchen, den Befehl seines Schöpfers zu mißachten, es wollte ihm nicht gelingen.
    Erwache, wenn der Judenstadt Gefahr droht!
    Der Wunsch, der Zauber, der Fluch.
    Und erwacht war er, vor Tagen schon. Oder Wochen? Länger noch? Er hatte kein Gefühl für das Verrinnen der Zeit.
    Der Rabbi war schon alt gewesen, als er ihn auf den Dachboden führte. Alt und ein wenig nachlässig. Erwache! hatte er befohlen. Aber nicht: Helfe! Oder auch nur: Verlasse den Speicher!
    So war der Mann Josef gefangen. Er spürte, was in der Judenstadt geschah, und doch war er hilflos. Eingekerkert und zum Wachsein verurteilt.
    Er setzte sich auf, stemmte sich schwerfällig auf die Beine und stieg die Leiter zur Dachluke empor. Mühelos hob er sie an und reckte den Kopf ins Freie. Drunten, in den Gassen, rührte sich nichts. Es war heller Tag, aber niemand wagte sich aus den Häusern.
    Spüren sie es? dachte er. Spüren sie den Schattenesser?
    Nein, ihre Ängste sind andere: vor der Willkür der Söldner, vor Krankheit, vor Hunger und Tod. Genug, um sie hinter die Türen zu treiben, in die scheinbare Sicherheit ihrer Mauern. Und hätte man sie gewarnt, was hätten sie erwidern sollen? Sie kannten nicht den Wert ihrer Schatten, und so konnten sie die Bedrohung nichterkennen. Wie hätten sie den Verlust von etwas fürchten können, um dessen Besitz sie nicht wußten?
    Der Mann Josef wünschte sich, hinab in die Gassen zu steigen, sich auf die Suche zu begeben. Doch selbst das war nicht nötig. Er wußte längst, wo der Gegner sich verbarg. Er konnte ihn fühlen, konnte ihn auf eine Weisewahrnehmen, wie es kein anderer vermochte.
    Der Schattenesser glaubte sich in Sicherheit. Der Mann Josef streckte seine Gedanken nach ihm aus, tastete mit unsichtbaren Fühlern. Ja, da war er, zufrieden und satt und doch auf der Hut. Hatte er Angst? Wovor? Wen konnte er fürchten?
    Er zählt wieder: Weiß die Eins, gelb die Zwei, orange die Drei. Mal grün, mal blau die Vier, und rot die Fünf. Blau die Sechs, die Sieben grün und schmutzig braun die Acht. Die Neun ganz schwarz, die Zehn mal weiß, mal grau.
    Doch gelb/zwei und rot/fünf war gleich orange, also drei, und nicht grün wie die Sieben.
    Der Mann Josef begriff, daß auch er sich täuschen konnte. Er war nicht vollkommen. Er hatte sich getäuscht. Getäuscht von Anfang an.
    Weiß und gelb macht keineswegs orange.
    Aber: Blau und gelb macht grün, also acht.
    Demnach konnte nicht alles falsch sein. Nur Teile des Ganzen waren verkehrt.
    Er machte Fehler. Denkfehler. Für ihn war das eine neue Erfahrung. Und wenn er sich einmal irrte - warum nicht auch mehrfach?
    Warum nicht in allem, was den Schattenesser betraf? Er überdachte die Konsequenzen. Der Schattenesser existierte, das stand fest. Aber er hatte Angst, und das paßtenicht in das bisherige Bild. Hier also mußte der Fehler liegen. Er hatte Angst - vor etwas oder jemandem. Etwas, das über die gleiche oder noch mehr Macht verfügen mußte. Bislang aber hatte der Mann Josef angenommen, der Schattenesser sei einzigartig.
    Und plötzlich verstand er, wo sein Fehler lag: Einmal eins war eben doch nicht eins, sondern mindestens zwei.
    Der Schattenesser war nicht allein.
    Es gab mehrere wie ihn.
     
     
----
KAPITEL 4
----
     
    Das Heerlager der Siebenbürger füllte das Tal aus wie ein See, dessen braune Oberfläche bei tosendem Wellengang erstarrt war. Die spitzen Zelte aus Leder und gefettetem Leinen waren wie hohe Wellenkämme, die Fahnen und Banner ihre Kronen. Das wimmelnde Leben darunter blieb

Weitere Kostenlose Bücher