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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Balans einzigen Arm mit einer heftigen Bewegung zur Seite. Der Topf mit der Salbe, den der Mediziner neben ihm abgestellt hatte, rollte über den Boden.
    »Ihr mordet meine Brüder und Schwestern. Ihr tötet Kinder, ihr tötet Frauen. Ihr tut ihnen Gewalt an und schlachtet sie wie Schweine. Glaubst du, ein einziger Mann dieses Landes zöge an eurer Seite in einen Krieg?«
    Vor seinen Augen verschwamm wieder alles, die Aufregung nahm ihm fast den Atem.
    Balan hob geduldig den Salbentiegel auf und wischte ihn an seinem Hosenbein sauber. »Ich versorge Kranke. Ich helfe ihnen, weiterzuleben. Ich weiß nicht, wer in diesem Krieg wen tötet oder wie er es tut. Zu mir kommen die Männer, wenn sie bluten, wenn ihnen die Gedärme aus den offenen Bäuchen hängen und die Augen übers Gesicht auslaufen. Davon verstehe ich etwas, nicht vom Töten. Meinen Arm hier« - er deutete auf die verwachsene Schulterhand - »den hat mir kein Krieg genommen. Gott hat beschlossen, daß ich ihn nichtbrauche. Und er hatte recht: Ich weine meinem Arm keine Träne nach. Aber ich glaube, nur Gott sollte die Macht haben, solch eine Entscheidung zu treffen, nicht ein anderer Mensch. Deshalb tue ich mein Bestes, um das zu verhindern. Wenn sie mir einen bringen, dem der Arm in Fetzen hängt, dann versuche ich, ihn zu retten, denn ein Mensch trägt die Schuld daran. Wenn derselbe Mann, der mir seinen Arm verdankt, später eine Frau schändet und verstümmelt, dann tut es mir trotzdem nicht leid, daß ich ihm geholfen habe. Ich würde das gleiche für die Frau tun, der er Gewalt angetan hat. Ich helfe, verstehst du? Verachte von mir aus die anderen, aber ich habe deinen Haß nicht verdient, mein Freund.«
    Michal starrte ihn einen Augenblick länger wortlos an, dann schüttelte er den Kopf. Er dachte an das, was bald über dieses Lager hereinbrechen würde, und spürte im selben Moment keine Wut mehr. Es gab kein Entrinnen, für niemanden hier. Es lohnte nicht, noch ein Wort darüber zu verlieren. Er fühlte in sich eine grenzenlose Überlegenheit, geboren aus der Gewißheit, längst der Sieger zu sein. Mochte Balan soviel reden, wie er wollte. Mochten die Soldaten ihn, Michal, foltern und töten. Es war alles gleichgültig, wenn erst das Hühnerhaus auf den Hügeln tanzte.
    Balan nahm sein Schweigen mit Befriedigung hin und fuhr damit fort, die Wunden zu versorgen. Diesmal stieß er nicht mehr auf Widerstand. Michal ließ es gleichgültig geschehen, weder dankbar noch feindselig.
    »Warum läßt du mich am Leben?« fragte Michal schließlich.
    Balans Stirn legte sich in Zornesfalten. »Zum letzten-mal: Es obliegt mir nicht, über das Leben anderer zu entscheiden, weil ich ebenso wenig über ihren Tod entscheide.«
    »Warum hast du mich vor den Soldaten gerettet?«
    »Weil du klug bist. Klüger als dieser ganze Haufen von Dummköpfen dort draußen. Sie glauben, du bist wahnsinnig, aber ich weiß es besser. Wie ist dein Name?«
    »Michal.«
    »Bist du Russe?«
    »Meine Vorfahren.«
    »Um so besser. Oana hat einen Narren an Russen gefressen.«
    Michal wollte widersprechen, wollte ihm nochmal erklären, daß nicht er selbst aus Rußland käme, aber dann ließ er es bleiben. Es war ohnehin belanglos.
    »Was tut sie beim Fürsten?« fragte er stattdessen.
    »Oh, vieles«, erwiderte Balan vage.
    »Ist sie seine Mätresse?«
    »Oana?« Der Gedanke schien Balan so abwegig, daß er ihn völlig durcheinanderbrachte. Er lachte aufgeregt.
    »Ganz bestimmt nicht. Nein, sie verheißt ihm die Zukunft, heilt nach der Schlacht seine Wunden und beruhigt ihn, wenn ihn die Wut auf alle Welt packt. Oana hat große Macht über Fürst Gabor und ist allein für ihn da. Ich darf mich derweil mit diesen Schwachköpfen herumschlagen.«
    »Deine Herrin kennt die Zukunft?« fragte Michal verblüfft. Er hatte gehört, daß es in den Städten Menschengeben sollte, die dergleichen vermochten, hatte aber selbst nie einen getroffen.
    »Natürlich«, behauptete Balan mit sichtlichem Stolz. »Sie kennt unser aller Zukunft. Meine, deine, jedermanns.«
    Unsicherheit schlich sich in Michals Denken. Wenn diese Oana wirklich vorhersehen konnte, was geschehen würde, warum hatte sie den Fürsten dann nicht vor der Baba Jaga gewarnt? Zweifellos mußte sie doch wissen, was dem Lager bevorstand.
    Hatte er etwa einen Fehler gemacht? Reichte seine Fährte nicht aus, um das Hühnerhaus hierherzuführen? War alles umsonst gewesen?
    Er spürte, wie ihn Verzweiflung übermannte. Er durfte jetzt nicht

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