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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Offenbar zufrieden mit dieser Feststellung zog Oana sich wieder zurück.
    »Du sprichst tatsächlich die Wahrheit«, sagte sie und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Sie hob eine Hand an ihre Kette. Zwei der Krallen schlössen sich beinahe zärtlich um ihren ausgestreckten Zeigefinger.
    Michal schauderte.
    »Niemand sonst kann es sehen«, erklärte sie. »Kein gewöhnlicher Mensch sieht das Leben in diesen Krallen. Du mußt mir mehr über dich erzählen, Michal-mit-russischen-Ahnen.« Nun lächelte sie fast zärtlich.
    Er wußte nicht, ob der Schwindel, der ihn wieder befiel, immer noch von seiner Erschöpfung herrührte. Kein gewöhnlicher Mensch, hatte sie gesagt. »Ich weiß nicht, was du hören willst.«
    »Erzähle mir, wo du herkommst. Was du hier tust. Sprich über deine Familie. Alles will ich wissen.«
    Er holte Luft, um ihrem Willen ergeben zu folgen, dann aber kam ihm schlagartig ins Gedächtnis, weshalb er ins siebenbürgische Lager gekommen war. Er sah die auf- und zuschnappenden Hühnerkrallen vor sich und fragte sich zum erstenmal seit Nadjeschdas Tod, ob er den Verstand verloren hatte. Nun, falls dem so war, so war er doch nicht verrückt genug, dem Feind alles über sich zu verraten. Und Oana war sein Feind. Schlimmer noch: Sie war die persönliche Vertraute des feindlichen Herrschers.
    Statt einer Antwort schüttelte er deshalb nur den Kopf und preßte die Lippen aufeinander, als fürchtete er, Oana könne ihn auch gegen seinen Willen zum Sprechen bringen.
    Aber natürlich vermochte sie nichts dergleichen. Zumindest sein Wille blieb unangetastet.
    Oana sah, daß er sich gegen sie sträubte, und erlaubte sich einen bedauernden Seufzer. Ganz unvermittelt zog sie sich die Kette über den Kopf. Ehe Michal sich wehren konnte, hatte sie ihm das Gehänge auf den Oberkörper geworfen. Die Klauenkette verkrallte sich in seinem Fleisch - und kroch wie ein Lebewesen an ihm empor!
    Er kreischte auf und versuchte, die lebende Kette mit beiden Händen von sich zu reißen, aber die Krallen gruben sich nur noch tiefer in seine Haut.
    »Laß sie los!« befahl ihm Oana. »Dann werden sie dir keinen Schmerz zufügen.«
    Er hörte kaum, was sie sagte, solches Grauen flößte ihm das Gekratze und Geschabe der sieben Hühnerfüße auf seinem Körper ein.
    »Hör auf, dich zu wehren!« gebot ihm Oana noch einmal, jetzt in deutlich schärferem Ton. »Sieh zu, was sie tun!«
    Diesmal drangen die Worte bis zu ihm vor. Unter Aufbietung all seines Willens ließ er von der zuckenden Kette ab und krallte die Hände zu beiden Seiten seines Körpers in die weichen Felle. Stocksteif und mit aufgerissenen Augen sah er zu, wie die Hühnerklauen überseine Brust eilten und sich seinem Gesicht näherten. In panischer Angst wollte er den Kopf abwenden, doch Oana schrie ihn an:
    »Nein, nicht! Warte ab, was sie wollen!«
    Erfüllt von unbeschreiblichem Ekel ließ er zu, daß drei der sieben Klauen über sein Gesicht krabbelten. Die übrigen vier verharrten an seiner Kehle.
    »Sie legen dir die Kette um«, sagte Oana gebannt. »Sie wollen, daß du sie am Hals trägst.«
    Und tatsächlich spürte er schon Herzschläge später, wie die Kette von den drei oberen Klauen über seinen Hinterkopf gezogen wurde und in seinen Nacken rutschte. Nachdem sie um seinen Hals lag, sammelten sich die Hühnerfüße im Halbkreis oberhalb seines Brustbeins. Dort erschlafften sie und regten sich nicht mehr.
    Er versuchte zu sprechen, brachte aber nichts als ein hohes Krächzen hervor.
    Oana, die selbst kaum zu fassen schien, wessen sie eben Zeuge geworden war, trat einen Schritt zurück. Einen Augenblick lang erwartete er fast, sie würde demütig vor ihm niederfallen, doch - ganz gleich ob Wunschtraum oder Eingebung - sie tat nichts dergleichen. Statt dessen sagte sie nur:
    »Die Kette gehört jetzt dir, Michal.«
    Zu seinem Erstaunen sprach ehrliche Erleichterung aus ihrer Stimme, als hätte sie nach langer Zeit eine schwere Bürde ablegen dürfen.
    Mühsam suchte er nach Worten. »Ich ... ich will das nicht«, sagte er. Er wußte selbst nicht, weshalb er das statt sie sagte, aber ihm war, als stünde die Kette inWahrheit für etwas Größeres, Mächtiges, das eine Gefahr bedeutete.
    »Du bist nun der Herr des Hühnerhauses«, sagteOana. Er machte den schwachen Versuch, sich lustig zu machen. »Der Hahn?«
    Sie verzog nicht einmal die Mundwinkel. »Wenn du so willst, vielleicht.« Oana wandte sich um und nahm ein gläsernes Gefäß zur Hand. »Du mußt

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