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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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jetzt schlafen.«
    Und ehe er sich versah, preßte sie den Rand des Glases an seine Lippen, und eine kühle Flüssigkeit drang in seinen Mund. »Schlafen«, hörte er sie noch einmal sagen, dann sah und hörte er nichts mehr.
    Als er erwachte, lag er im Schlamm, und um ihn war fahle Dämmerung. Es war Abend, der letzte Streifen Tageslicht verging im Westen hinter den Baumwipfeln. Das bedeutete, er hatte mindestens einen ganzen Tag verschlafen, denn als er in Oanas Zelt gebracht wurde, war es noch früh am Morgen gewesen.
    Er blickte sich um und stellte fest, daß er sich noch immer im Tal befand. Ringsherum stiegen die bewaldeten Hänge der Berge empor.
    Das Lager der Siebenbürger war verschwunden.
    Es hatte sich keineswegs in Luft aufgelöst. Der ebene Grund des Talkessels war zertrampelt und von tiefen Furchen durchzogen, wie Wagenräder sie unter schwerer Belastung in die Erde schneiden. Bis zum Waldrand war der Boden in allen Richtungen mit erloschenen Feuerstellen gesprenkelt, verkohlte schwarze Flecken wie Pocken im Erdreich. Aus manchen kräuselten sich noch hauchdünne Rauchfahnen gen Himmel. Ganz in Michals Nähe lag ein Haufen Tierkadaver, Pferde, Schweine, sogar Rinder, wie sie der Troß eines Heerzuges mit sich führt. Manche waren zerlegt und ausgeweidet, andere gänzlich unversehrt. Die unteren waren teilweise angebrannt; offenbar hatte man versucht, die toten Tiere anzuzünden, doch das Feuer war erloschen. Hier und da ragten noch vereinzelte Zeltstangen aus dem Boden, zerbrochen oder sonstwie unnütz. Die Soldaten hatten sie ebenso zurückgelassen wie unzählige Gruben voller stinkender Ausscheidungen. Vereinzelt lag auch noch Gerumpel umher, das niemand mehr gebrauchen konnte: Töpfe, zersplitterte Tonkrüge, Kleidungsstücke, mit
    denen der Wind spielte, und sogar ein verlorener Hut, der wie eine Krähe über die vernarbte Wiese trieb.
    Es war eine Landschaft wie aus einem Alptraum, wie ein Schlachtfeld ohne Leichen. Michal fühlte sich unendlich verloren inmitten all dieser trostlosen Leere. Über ihm kreisten Vögel in der anbrechenden Nacht, und hungriges Getier huschte lautlos zwischen den Resten des Lagers einher.
    Sie hatten ihn zurückgelassen, aber nicht getötet. Er wußte nicht, was er davon halten sollte.
    Da erinnerte er sich an die letzten Augenblicke, bevor ihm Oanas Trunk das Bewußtsein geraubt hatte. Seine Hand fuhr zum Hals hinauf und umfaßte dürre Hühner-krallen. Angewidert zog er die Finger zurück und blickte an sich hinunter. Kette und Klauen lagen locker um seine Kehle. In den Hühnerfüßen war keine Spur von Leben.
    Herr des Hühnerhauses, dachte er verwirrt. Nicht länger der Fährtenleger. Nicht mehr Beute, nicht Gejagter.
    Herr des Hühnerhauses. Das klang merkwürdig, fast albern, hätte er nicht das wahre Gewicht dieser Worte erahnt. Michal spürte, wie die Angst ihm den Magen verkrampfte. Sie kam nicht plötzlich, nicht unerwartet, sondern war schon da, als er erwachte, als hätte er seinen Schlaf mit Nachtmahren zugebracht. Er konnte sich nicht daran erinnern, aber genauso mußte es gewesen sein. Die Angst, das begriff er mit einem mal, war jetzt ein fester Teil seiner selbst. ·
    Er befühlte seine Nase. Schon die leichteste Berührung setzte sein Gesicht in Flammen. Der Schmerz war grauenvoll. Er war froh, daß er sein Spiegelbild nicht sehen mußte. Von seiner Nase konnte nicht allzuviel übriggeblieben sein.
    Auch seine Arme und Beine taten weh, aber nicht schlimm genug, um ihn am Aufstehen zu hindern. Müh
    sam schleppte er sich in Richtung des Sonnenuntergangs. Irgendwo jenseits der Wälder mußte Prag liegen, immer noch mehrere Tagesmärsche entfernt. Zu seinem eigenen Erstaunen gewann er mit jedem Schritt an Kraft, und aus dem Vorwärtsschleppen wurde allmählich aufrechtes Gehen.
    Michal versuchte nachzudenken, aber in seinem Kopf herrschte immer noch ein schreckliches Wirrwarr aus Bildern und Eindrücken, die sich überlappten, auseinanderbrachen oder ganz verblaßten. Er hatte Schwierigkeiten, einen Gedanken klar zu erfassen und beizubehalten, und so hangelte sich sein Denken mühevoll an dem Gesicht Oanas entlang. Woher hatte sie die merkwürdige Kette? Was bedeuteten die lebenden Hühnerfüße? Und hatten sie überhaupt je gelebt, oder hatte ihm die eigene Einbildungskraft einen Streich gespielt?
    Er war versucht, das scheußliche Ding einfach abzustreifen und fortzuwerfen, doch irgend etwas hinderte ihn daran.
    Herr des Hühnerhauses.
    Machte ihn

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