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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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helfen.«
    »Warum?«
    Balan war jünger, als Michal angenommen hatte. Sein vierzigstes Jahr lag weit in der Zukunft. Er war klein, hatte einen krummen Rücken und einen verkümmerten linken Arm. Die Hand ragte dort direkt aus dem Schultergelenk und krallte sich mit allen Fingern fest an den Stumpf, wie eine fleischfarbene Spinne. Statt einer Antwort fragte er: »Kannst du lesen?«
    »Ja«, erwiderte Michal wahrheitsgetreu. »Lesen, schreiben, rechnen.«
    »Das dachte ich mir. Deshalb lebst du noch.«
    »Ich verstehe nicht.«
    Balan schüttelte sanft den Kopf. Die Finger seiner verwachsenen Hand zuckten der Reihe nach wie beim Flötenspiel. »Später«, sagte er. »Erst will ich deine Wunden versorgen.«
    Er machte sich daran, in einem faustgroßen Tiegel eine Salbe anzurühren. Dabei hielt der gesunde Arm die Schale, während er den Rührstab zwischen die Zähne nahm. Die Schulterhand war offenbar vollkommen nutzlos.
    Michal blickte sich im Zelt um. Durch die zahllosen Nähte in der Lederplane fiel helles Tageslicht; es sah aus wie verästelte Blitze. Auch das Leder selbst war an vielen dünnen Stellen durchscheinend, so daß das Innere in ein gedämpftes Zwielicht getaucht war. Das Zelt war fast so hoch wie die Zimmer eines normalen Hauses. Selbst dort, wo die Dachplane durchhing, hätte er mühelos stehen können, ohne mit dem Kopf anzustoßen. Auch wirkte es von innen weit größer, als er erst angenommen hatte. Auf hölzernen Tischen und Bänken standen allerlei Schalen, Flaschen und andere Behältnisse. Sogar eine gläserne Kugel, so groß wie ein Kinderkopf, lag auf einem roten Samtkissen.
    Das Lager, auf dem Michal lag, war nicht das einzige im Zelt. Es gab eine weitere, ungleich größere und weichere Schlafstatt.
    »Bist du so etwas wie ein Medicus?« fragte er an Balan gewandt, der mit dem Anrühren fertig war.
    Der Verkrüppelte nickte. »Ja«, bestätigte er. »Aber nur der Gehilfe.«
    Dies war also nicht Balans Zelt. »Wer ist dein Herr?« fragte Michal.
    »Kein Herr, eine Herrin«, erwiderte Balan. »Oana Corciova ist meine Meisterin. Du wirst sie bald kennenlernen.«
    »Wo ist sie?« fragte Michal. Er spürte, daß seine Stimme schwächer wurde. Balan schien sich vor seinen Augen zu verzerren, mal in die Länge, mal in die Breite.
    »Was ist los?« fragte Balan, als er bemerkte, wie sich Michals Blick verklärte.
    »Nur ... Schwäche. Es geht schon wieder.«
    Balan beugte sich erneut über ihn und bestrich seine zertrümmerte Nase mit einer weißen Salbe. Sie kühlte, aber der Schmerz blieb.
    »Es wird weiterhin weh tun«, erklärte er, als hätte er Michals Gedanken gelesen. »Aber es sollte schneller genesen.«
    »Deine Herrin ... wird sie bald kommen?« fragte Michal. Er nahm an, daß man ihn bis zur Begegnung mit ihr nicht töten würde. Mehr Zeit für das Hühnerhaus, ihn aufzuspüren.
    »Ja, bald«, sagte Balan, »sehr bald schon. Sie ist beim Fürsten, aber schon den ganzen Tag. So lange bleibt sie selten, deshalb wird sie bald kommen.«
    »Ist der Fürst krank?« fragte Michal hoffnungsvoll.
    Balan zuckte zurück, als hätte er ihn persönlich beleidigt. »Fürst Gabor erfreut sich bester Gesundheit«, sagte er stolz, »und er wird sein Heer zum Sieg führen.«
    Michal hätte fast laut aufgelacht, aber alles, was seiner Kehle entstieg, war ein rauhes Krächzen, das in seinem Hals brannte. »Zum Sieg?« fragte er hämisch. »Sieg über wen? Über ein paar niedergebrannte Bauernhöfe? Ein paar ausgeplünderte Adelshäuser? Über ... über tote Frauen und Kinder?« Die letzten Worte hatte er geschrien, laut und hoch, mit einer Stimme, die kaum seine eigene war.
    »Hast du Frau und Kinder?« fragte Balan, sichtlich zerrissen zwischen seinem Zorn über Michals Hohn und einem Anflug von ehrlichem Mitgefühl.
    Michal zögerte einen Augenblick lang, dann sagte er leise: »Nein.« Nur dieses eine Wort. Und doch tat es unendlich weh.
    Balan nickte wieder, offenbar erleichtert. »Dann hast du keinen Grund, mich zu hassen. Ich diene meiner Heimat so wie du der deinen.«
    »Aber ihr habt meine Heimat angegriffen,«
    »Ihr habt uns zur Hilfe gerufen.«
    »Nennst du das da draußen Hilfe?«
    Balan zog ungerührt Michals Hemd hoch und betrachtete die blauen Flecken und Schürfwunden an seinem Oberkörper. »Wir ziehen gen Prag«, erklärte er, während er weitere Salbe auf Michals Haut auftrug. »Dort werden wir uns mit eurem Heer vereinigen und gemeinsam gegen den deutschen Kaiser ziehen.«
    Michal schlug

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