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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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aufgeben. Das war er Nadjeschda und Modja schuldig.
    Vielleicht gab es eine andere Antwort. Was, wenn diese Oana eine Schwindlerin war? Wenn sie nur behauptete, sie könne in die Zukunft blicken, obwohl sie es in Wahrheit gar nicht vermochte?
    Aber würde der mächtige Herrscher Siebenbürgens einer Lügnerin vertrauen? Zweifellos hatte er mehr als einmal Gelegenheit gehabt, ihr Können zu prüfen. Ihre Fähigkeiten mußten demnach wahrhaftig sein.
    Es gab also nur eine Möglichkeit: Das Hühnerhaus würde das Lager schonen, aus welchem Grund auch immer.
    Michal schrie auf. Wieder begann er, um sich zu schlagen, und diesmal traf er Balan direkt ins Gesicht.
    Der verwachsene Mann zuckte zurück, die Salbe fiel zum zweiten mal in den Schmutz.
    Da betrat Oana das Zelt.
    Sie fragte etwas mit leiser Mädchenstimme - und Michal erstarrte. Sie war beeindruckend schön. Schwarzhaarig, nicht groß, dabei so zierlich wie ein Kind. Doch das war es nicht, was ihm Atem und Stimme nahm.
    Um Oanas zarten Hals hing eine Kette, und an ihr baumelten - schabend, kratzend, zuckend - sieben lebendige Hühnerkrallen.
    Er hatte sich keineswegs getäuscht, obgleich er sich doch wünschte, daß es so wäre. Die dürren Krallen lebten. Die vertrockneten Glieder schienen Michal zuzuwinken, ganz so wie verknöcherte Hexenfinger. Komm her! schienen sie ihm zu bedeuten. Hab keine Angst und komm her!
    Oanas Hals und Brustausschnitt waren durch eine Art enganliegende Schärpe vor den Krallen geschützt. Michal sah, daß die scharfen Spitzen gekappt und rundgeschliffen waren, so daß sie für die Trägerin keine Gefahrmehr bargen.
    Sein Blick hing wie betäubt an der Kette über Oanas Brust, und Balan schien es prompt falsch zu verstehen.
    »Zeig gefälligst Respekt!« zischte er ihm zu und sagte dann in seiner Heimatsprache etwas zu Oana, wohl als Antwort auf ihre Frage. Michal hörte, daß sein Name fiel, verstand jedoch nichts von dem übrigen.
    Die junge Frau - Michal war sicher, daß sie kaum zwanzig Lenze zählte - nickte, erwiderte etwas auf Balans Bericht und wandte sich dann an Michal.
    »Du bist Russe?« fragte sie.
    Michal konnte nur starr auf die Kette aus Hühnerkrallen schauen. Alles andere verlor an Bedeutung. Als Oana einige Schritte auf ihn zu machte, wurden die Bewegungen der Klauen noch hastiger, beinah aufgeregt, als könnten sie es kaum mehr erwarten, ihn zu berühren. Jetzt streckten sie sich ihm entgegen.
    Ein Zeichen? fragte er sich. Eine Prüfung?
    »Bist du Russe?« fragte der feine Mund über den Krallen noch einmal. »Meine ... meine Vorfahren waren Russen«, erwiderte er stockend.
    Oana stand nun ganz nahe vor ihm. Sie betrachtete die blutigen Trümmer in seinem Gesicht. »Hattest du eine schöne Nase?«
    »Schön?« wiederholte er verwirrt. »Ich weiß nicht.«
    Sie hob die Augenbrauen und wandte sich an Balan.
    Die Krallen schienen zu protestieren, als sie sich wieder von Michal entfernte. Kraftlos zupften und zerrten sie an der Kette, die sie hielt - vergeblich. Die winzigen Metallglieder schnitten nicht einmal in Oanas Hals.
    Balan und seine Herrin unterhielten sich kurz, während Michal nur Augen für die Kette hatte. Als Oana ihn wieder ansah, bemerkte sie, daß er zitternd mit dem Zeigefinger auf sie wies.
    »Was ist?« fragte sie. »Hast du große Schmerzen?«
    »Die Krallen«, brachte er mühevoll hervor.
    »Was ist damit?«
    »Sie leben!«
    Oanas Augen weiteten sich in maßlosem Erstaunen. »Was sagst du da?«
    »Die Krallen an deiner Kette ...«, keuchte Michal,
    »... sie bewegen sich!«
    Balan schüttelte den Kopf. »Du redest wirr, Michal. Der Schmerz, die Anstrengung ...«Michal schnitt ihm das Wort ab. »Nein, sieh doch! Die Krallen leben!«
    Balan blickte auf Oanas Kette, offenbar ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken. »Es ist nur ein Halsschmuck.«
    Oana musterte Michal einen Augenblick länger, dann raunte sie Balan etwas in ihrer Heimatsprache zu. Das Gesicht ihres Gehilfen zeigte Erstaunen, plötzlich aber tat er, was sie ihm befohlen hatte: Er verließ das Zelt.
    Als Oana mit Michal allein war, fragte sie leise: » Du siehst , daß sie sich bewegen?«
    »Ja«, erwiderte er und zuckte zugleich zurück, als die Krallen wieder in seine Richtung stießen.
    Oana beugte sich noch näher an ihn heran, bis nur noch eine Handbreit ihre Gesichter voneinander trennte. Michal versuchte, weiter vor den Klauen zurückzuweichen, aber es ging nicht. Die Furcht in seinen Augen verriet, daß es ihm ernst war.

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