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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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allein die Kette dazu? Unmöglich. Er schaute sich um, in die Richtung, aus der er am Morgen gekommen war, doch der Wald lag in der dunklen Ferne schwarz und reglos da. Auch als er in die Hocke ging und beide Handflächen prüfend auf den Boden legte, spürte er keinerlei Erschütterungen. War das Haus überhaupt noch hinter ihm, oder hatte es ihn längst auf dem Weg zur Stadt überholt? Er selbst hatte einen ganzen Tag verloren, gut möglich, daß die Baba Jaga bereits weiter war als er.
    Die Baba Jaga - plötzlich wunderte ihn selbst, mit welcher Selbstverständlichkeit er an sie dachte. Er hatte sie nie gesehen, hatte lediglich geglaubt, ihr Stampfen und Kreischen hinter sich zu hören, als das Anwesen des Papiermachers niederbrannte.
    Trotzdem glaubte er noch immer, sie spüren zu können, beinahe stärker als zuvor. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß eine Verbindung zwischen Kette und Haus bestand, doch wie würde sie sich äußern? Würde die Baba Jaga ihm fortan gehorchen - falls sie überhaupt existierte? Oder war all das etwas, das nur in seinem Kopf geschah?
    Dagegen sprach freilich der verlassene Lagerplatz und die Tatsache, daß die Kette hier und jetzt um seinen Hals hing. Prüfend berührte er noch einmal eine der Krallen, wurde mutiger, als sie sich nicht rührte, und bog sogar daran herum. Nein, kein Zweifel, der Hühnerfuß war tot. So er sich jemals bewegt hatte, war es damit offenbar vorbei.
    Und Oana? Wer war sie wirklich, daß sie von Dingen wußte, von denen niemand sonst je gehört hatte? Wie er es in Erinnerung hatte, hatte er ihr die Kette - und damit deren Bedeutung oder Macht oder Was-auch-immer streitig gemacht. Mußte sie deshalb nicht wütend auf ihn sein? Aber sie hätte ihn töten können, wenn ihr daran gelegen hätte, doch das hatte sie nicht getan. Sie hatte ihn einfach hier liegen lassen, ja, sie mußte seinen reglosen Körper gar beschützt haben, denn er vermochte sich durchaus vorzustellen, welchen Trubel ein Abmarsch von mehreren tausend Soldaten verursachte. Wie schnell hätte ein Wagen ihn überrollen, ein Pferd ihn unter sich zerstampfen können! Oana - oder Balan – mußte bis zum Ende bei ihm ausgeharrt haben.
    Das Heer Bethlen Gabors zog nach Prag, und das war auch sein Ziel. Daß sie ihn nicht einfach mitgenommen hatten, konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder fürchteten sie ihn, wagten aber nicht, ihn zu töten - oder aber sie wollten, daß er jemandem begegnete.Als hätte das Schicksal seine Gedanken gelesen, geriet plötzlich die schwarze Masse des Waldes am fernen Rand des Tales in Aufruhr. Vielleicht war es nur ein Wind, der in die Baumkronen fuhr, aber es hätte schon ein Sturm sein müssen, um solches Rauschen und Brechen zu gebären - und wenn es ein Sturm war, warum spürte er dann hier, nur dreihundert Schritte entfernt, nichts davon?
    Etwas kam mit der anbrechenden Nacht von Osten über das Land, etwas wütete zwischen den Bäumen. Er hörte das Splittern der Äste und das Bersten entwurzelter Stämme, spürte jetzt auch, wie der Boden unter ihm erbebte, wellenförmig, wie ein aufgewühltes Gewässer. Der Lärm wurde lauter, kam auf ihn zu, etwas kämpfte sich durch den Wald den Hang herab, tiefer ins Tal, näher und näher und immer näher.
    Und dann verstummte es.
    Die Finsternis war längst zu dicht, als daß er noch irgend etwas hätte erkennen können. Der Wald war nur ein wucherndes Dunkel ohne Form und Tiefe, und alles, was sich darin bewegte, wurde zwangsläufig von der Finsternis verschluckt. Vielleicht stand da jemand am Waldrand und beobachtete ihn. Ihm war, als wären stechende Augen auf ihn gerichtet, er konnte die Blicke fast körperlich fühlen, so eiskalt wie ein Lufthauch im Winter. Ja, sie beobachtete ihn aus ihren tückischen, gemeinen Augen, zwei schwarze Punkte im Schwarz der Nacht, unsichtbar und doch spürbar mit jeder Faser seines Leibes.
    Die Angst war wie ein Tier in ihm, sie zerrte und biß, sie kämpfte um ihre Freiheit, und dann gab er nach. Michal warf sich herum und stürmte los, fort von dem fernen Waldrand im Osten, fort von allem, was er verbergen mochte. Nach Prag mußte er, so schnell er nur konnte , und vielleicht war der glühende Lichthauch im Westen gar kein Sonnenuntergang, sondern das Leuchten der goldenen Dächer und Türme. Vielleicht war es näher, als er dachte, wenn er nur rannte, wenn er eilte, mit all seiner Kraft.
    Er lief durch den Schlamm des Lagerplatzes, taumelte, stürzte, sprang auf und

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