Der Schattenesser
Die Vögel hatten sie abgelenkt. Aber war sie hier oben wirklich mit den Tieren allein?
Sie hatte den Gedanken kaum gefaßt, da fühlte sie auch schon, wie sich di e Finsternis um ihren Körper zu sammenzog, bis sie kaum noch wagte, sich zu bewegen. Sie wußte sehr wohl, daß sie selbst diese Empfindung hervorgerufen hatte, daß sie nur in ihrem Kopf stattfand. Trotzdem packte sie inmitten dieser absoluten Schwärze ein grauenvolles Angstgefühl, Angst vor dem, was unsichtbar neben ihr sitzen mochte. Sie verspürte den heftigen Drang, mit ihren Händen in die Dunkelheit zu tasten, den Raum um sich zu erkunden, doch sie zögerte aus Furcht vor dem, was sie fassen mochte.
Was, wenn ihre Finger ein Gesicht berührten? Augen, die sie anstarrten, verschlagen musterten, auch ohne Licht?
Und doch mußte sie weiter. Sie konnte nicht ewig auf diesem Balken über dem Abgrund hocken. Der Weg nach unten aber war durch den Wächter versperrt. Er mochte bis zum Abend dort sitzen. Daher blieb ihr vorerst nichts übrig, als abzuwarten. Dazu aber mußte sie sich eine Stelle suchen, an der sie sich anlehnen oder aufstützen konnte. Ein Krampf würde sie unweigerlich abstürzen lassen.
Langsam und so lautlos wie nur möglich schob sie sich nach rechts auf die Dachschräge zu. Im Winkel zwischen Balken und Wand wollte sie sich ausruhen. Vielleicht gelang es ihr sogar, ihre Ängste zu überwinden.
Sie erreichte die Schräge schon nach wenigen Schritten, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Die Innenseite des Dachs war mit einem Gitter aus Brettern unterlegt, auf dem die Ziegel direkt auflagen. Sarai schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht gelang es ihr, einige der Schindeln zu lösen und ins Freie zu klettern.
Einen halben Schritt rechts von ihr entdeckte sie einen haarfeinen Spalt in der Schräge. Sie hätte kaum erstaunter sein können, als ihre Finger an derselben Stelle auf einen Riegel stießen. Es war nicht nötig, selbst eine Öffnung zu schaffen; das hatten andere längst vor ihr getan:
Sarai war auf einen verriegelten Ausstieg gestoßen, eine hölzerne Klappe inmitten der Dachziegel!
Mit zitternden Fingern versuchte sie, den Riegel zurückzuschieben. Die Eisenschiene war völlig verrostet. Wer immer sie angebracht hatte, hatte nicht die Feuchtigkeit bedacht, die durch die Dachziegeln sickerte. Sarai drückte mit aller Kraft, und langsam, ganz allmählich, ließ sich der Riegel lösen. Dann ruckte er plötzlich mit einem metallischen Kreischen zurück.
Der Söldner sah auf. »He, wer da? Komm runter, verdammt!«
Sarai dachte nicht daran, zu gehorchen. Statt dessen stieß sie mit beiden Händen fest gegen die Luke. Sie schwang nach außen, und im selben Augenblick flutete grelles Tageslicht herein. Dutzende Tauben schreckten von ihren Plätzen im Gebälk auf. Einen Herzschlag lang glaubte Sarai, in all dem Wirrwarr ein Gesicht zu erkennen. Doch falls wirklich jemand dagewesen war, so zog er sich sofort in die Dunkelheit jenseits des Lichtscheins zurück.
Sie hörte den Söldner am Grunde des Dachbodens schreien, erst Flüche und Drohungen, dann Alarmrufe. Flink schob sie sich durch die Öffnung ins Freie. Die Helligkeit blendete sie, und sie vertat kostbare Zeit damit, blind nach einem Halt zu tasten. Nachdem sich ihre Augen allmählich an das Tageslicht gewöhnt hatten, sah sie an der Außenseite des Dachs, gleich neben der Luke, einen Griff aus Metall. In Abständen führten weitere an der Schräge hinab bis zur Rinne, wo ein Dach ans andere stieß. Sie kletterte an den Metallgriffen nach unten, bis sie sich genau zwischen den Dächern der aneinandergrenzenden Häuser befand. Die Rinne führte in der einen Richtung zur Oberkante der Fassade an der Georgsgasse, in der anderen aber zur Außenwand der Burg. Sarai entschied sich, erst dort nach einer Möglichkeit für den Abstieg zu suchen, denn in de r Gasse vor dem Haus mochte es bald schon von Söldnern wimmeln. Vielleicht rechneten die Männer nicht damit, daß sie es an der Burgmauer versuchen würde.
Sarai hoffte, daß wer immer die Dachluke eingebaut und die Eisengriffe an der Schräge befestigt hatte, eine ähnliche Leiter auch außen am Gebäude verankert hatte. Sie war nun sicher, daß sie auf einen Ausstieg der Hühnerfrauen gestoßen war. Cassius hatte also doch recht gehabt. Obgleich Sarai immer noch daran zweifelte, daß tatsächlich die Edeldamen dahintersteckten, so schienen ihr doch die drei alten Frauen unheimlich genug, um mit der Sache zu tun zu haben. Und
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