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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dann mußte auch das junge Mädchen dazugehören. Und mit ihm wahrscheinlich noch viele andere. Wer aber, außer den hochgestellten Damen, hatte sonst noch Zugang zu diesem Gebäude?
    Und da begriff sie. Die Dienerinnen! Nicht die Gattinnen der Barone und Kaufleute waren die Hühnerfrauen, sondern deren Bedienstete. Nur sie kamen in Frage!
    Aus der Gasse drangen Rufe herauf. Der Söldner vom Speicher mußte seinen Hauptmann alarmiert haben.
    Gebückt lief Sarai die Rinne entlang bis zur äußeren Kante. Rechts und links von ihr wuchsen die aneinandergrenzenden Dachschrägen empor; vor ihr öffnete sich das weite Panorama Prags. Sarai blickte über die Giebel der Kleineren Stadt und die Moldau hinweg bis zum Altstädter Ring und noch darüber hinaus. Die Höhe ließ sie schwindeln. Ein kühler Wind trieb ihr Nieselregen und einen brackigen Geruch ins Gesicht. Er mußte vom Fluß stammen. Unten in den Gassen war er ihr nie aufgefallen.
    Sie ging an der Kante in die Knie und blickte vorsichtig an der Mauer hinunter. Sie hatte sich nicht getäuscht: Auch hier führten Eisensprossen in die Tiefe und verschwanden weiter unten im Laubdach einiger Bäume, die sich dicht an die Burgwand schmiegten. Gleich dahinter fiel eine felsige Steilwand weitere zehn Mannslängen ab bis zur Kleineren Stadt. Alles in allem mußte Sarai sich mehr als dreißig Schritte über dem Boden befinden. Ihr war totschlecht.
    Am anderen Ende der Rinne, dort, wo es abwärts zur Georgsgasse im Inneren der Burg ging, erschien plötzlich das obere Ende einer Sturmleiter. Die Ligasöldner waren schnell. Offenbar dachten sie nicht daran, ihre Beute entkommen zu lassen. Zitternd stieg Sarai über die Kante hinweg auf die erste Eisensprosse. Sie mußte unter den Bäumen verschwunden sein, ehe die Söldner auf dem Dach waren und sehen konnten, wohin sie geflohen war.
    Der Wind zerrte wilder und unbändiger an ihrem Kleid, während sie zögernd an der Wand herabstieg. Mehrmals überkam sie solche Übelkeit, daß ihr schwarz vor Augen wurde und sie glaubte, abstürzen zu müssen. Rechts und links von ihr befanden sich Fenster und Erker im Gemäuer, aber sie waren zu weit entfernt, als daß sie sich an eines hätte heranziehen können. Auch wagte sie kaum zur Seite zu schauen, hielt den Blick vielmehr starr vor sich auf die Wand gerichtet und tastete mit Händen und Füßen nach den nächsten Sprossen.
    Schließlich erreichte sie die oberen Äste der Baumkronen und zwängte sich zwischen ihnen hindurch, weiter an der Mauer entlang. Die letzten zwei Schritte sprang sie hinab, landete schwankend auf beiden Füßen und blickte sich um. Sie befand sich auf einem natürlichen Sims, nur wenige Schritte breit, in den die Bäume ihre Wurzeln krallten. Dahinter führte die Felswand steil zur Stadt hinab. Es widerstrebte ihr, sich noch einmal einer solchen Tiefe anzuvertrauen, sie wußte aber, daß ihr keine andere Möglichkeit blieb.
    Sie schaute kurz nach oben. Die Bäume verdeckten die Trittleiter, die sie herabgestiegen war. Sie konnte nicht erkennen, ob die Söldner schon oben über die Kan
    te blickten oder ihr sogar folgten. Ihr blieb nur, die Flucht fortzusetzen. In den Gassen der Kleineren Stadt würde sie eine Weile untertauchen und sich erst im Schutz der Dunkelheit wieder auf den Hradschin und in Cassius' Turm zurückschleichen.
    Das zweite Stück ihres Abstiegs war länger, aber ebenso dicht mit Eisensprossen bestückt wie das erste. Auch sie waren rostig, und manche ruckten in den Verankerungen, wenn Sarai ihre Füße darauf setzte, doch alle hielten ihrem Gewicht stand. Sie war zierlich, das war ihr Glück.
    Nach endlosem Klettern und manch bangem Augenblick kam sie endlich unten an. Sie überwand die Mauer, die den Hradschinfels von den ersten Häusern trennte, dann war sie in Sicherheit - zumindest der Palastwache war sie fürs erste entkommen. Trotzdem spürte sie keine Freude. Die Erkenntnis, wie knapp sie dem Tod entronnen war, übermannte sie unerwartet und mit grausamer Härte. Ihr ganzer Leib begann unbeherrscht zu zittern, und sie mußte sich im Eingang eines Hauses niedersetzen, bis sie sich beruhigt hatte.
    Schließlich aber raffte sie sich auf und huschte mit gesenktem Blick ins Labyrinth der Kleineren Stadt. Sie trottete eng an den Hauswänden entlang, immer auf der Hut vor den Schlächtern der Liga. Die Wirkung des roten Kleides, das sie in der Burg noch geschützt hatte, konnte sie hier unten in Gefahr bringen. Ein solches Kleid, mochte es

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