Der Schattenesser
noch so alt und an den Rändern ausgefranst sein, ließ sie wie einen Rubin inmitten der Masse der Armen funkeln. Sie dankte Gott dafür, daß kaum jemand auf den Straßen unterwegs war. Die wenigen, die sich nach draußen gewagt hatten, warfen ihr finstere Blicke zu.
Sarai überlegte, ob sie in die Judenstadt zurückkehren sollte. Sie hatte keine Freunde dort, nur ein paar Nachbarn, mit denen sie nichts verband. Seit sich vor einem Jahr Cassius ihrer angenommen hatte, waren alle Beziehungen zu anderen Menschen abgerissen. Sie hatte es nie bereut - bis heute. Jetzt wünschte sie sich jemanden, bei dem sie unterkriechen konnte. Doch es gab niemanden mehr, zu dem sie gehen konnte.
Plötzlich kam ihr ein anderer Einfall. Eilig bog sie nach rechts, lief eine lange Straße hinunter, wandte sich dann nach links und stand kurze Zeit später vor der Öffnung des schmalen Einschnitts, in dem sie vor zwei Tagen den beiden Söldnern entkommen war. Als sie das Gewirr der Stützbalken zwischen den beiden Häuser-wänden wiedererkannte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Im Klettern aber hatte sie nun ausreichende Erfahrung. Ein paar Splitter mehr in Fingern und Beinen machten die Schmerzen auch nicht schlimmer, und zumindest würde man hier nicht nach ihr suchen. Zwischen den Balken konnte sie ungestört ausharren, bis es dunkel wurde und sie einen neuerlichen Aufstieg zum Hradschin wagen konnte. Cassius würde sich längst Sorgen um sie machen. Sie hoffte nur, daß er keine Dummheiten anstellte. Bei ihm konnte man nie sicher sein. Er war klug, manchmal gar weise, aber er wußte wenig über den tatsächlichen Lauf der Welt, die seinen Turm umgab. Wie leicht mochte ihn seine Abgeschiedenheit, seine mangelnde Erfahrung im Umgang mit Söldnern und Wachtposten in Schwierigkeiten bringen.
Mit einem stillen Seufzer erklomm Sarai die ersten Querbalken. Schon nach kurzer Zeit saß sie tief im Inneren des Gitters, lehnte sich gegen die feuchte Mauer und gab sich Mühe, nicht nach unten zu blicken - kaum noch wegen der Höhe, vielmehr wollte sie nicht sehen, ob der tote Söldner noch auf dem Grund des Schachtes lag. Ratten und streunende Hunde mußten sich längst an seinem Leichnam zu schaffen gemacht haben.
Eine ganze Weile hockte Sarai in ihrem Versteck. Die Sonne wanderte hinter den grauen Regenwolken über
den Fluß, ehe ihr klar wurde, daß sie das unnütze Dasitzen und Abwarten nicht mehr ertrug. Sie konnte nichtschlafen, aus Furcht, dabei den Halt zu verlieren und hinunterzufallen. Warum also sollte sie nicht weiter nach oben klettern und von dort aus die Gassen der Kleineren Stadt beobachten?
Also stieg sie weiter aufwärts, bis sie die obere Ebene des Balkengitters erreichte. Hier war ihr die Hühnerfrau begegnet. Sarai hatte nicht erwartet, sie hier wiederzusehen, und so war sie keineswegs enttäuscht, als sie die höchsten Verstrebungen leer vorfand. Sie kletterte weiter bis zur vorderen Kante, dort, wo sich die geisterhafte Erscheinung festgeklammert hatte, und blickte von dort aus in die Tiefe.
Ein fünfköpfiger Söldnertrupp schritt eilig die Straße hinunter, die Rücken mit schweren Säcken beladen, vollgepackt mit geraubten Gütern, die sie in ihre Unterkünfte schleppten. Aus einem Sack schaute oben der Kopf einer Puppe hervor. Vielleicht, so überlegte Sarai, hatte der Söldner irgendwo in der Ferne Frau und Kinder, die auf seine Heimkehr warteten.
Die unteren Dachkanten der beiden angrenzenden Häuser ragten fast zwei Mannslängen über das Netz der Stützbalken empor. Vor zwei Tagen hatte Sarai sich sehnlichst gewünscht, auf eines der Dächer fliehen zu können, doch die Kanten waren zu hoch, als daß man sie hätte erklimmen können.
Um so überraschter war sie nun, als ihr Blick auf eine Strickleiter fiel, die von einem der Häuser baumelte. Neugierig blickte Sarai hinauf zum Dach. Dort war niemand zu sehen.
Vorsichtig kletterte sie über die Querstreben zur rückwärtigen Wand, umfaßte eine der unteren Sprossen mit beiden Händen und zog daran mit aller Kraft. Die Leiter hielt offenbar, sie mußte fest verankert sein.
Sarai zögerte nicht länger und machte sich an den
Aufstieg. Das Dach, auf das sie die Leiter führte, war nahezu eben, fiel nur ganz seicht zum engen Rechteck eines Innenhofes ab. Zu ihrem Erstaunen fand Sarai eng an die Hauswand geschmiegt eine steile Holztreppe, die in einen Rundgang im oberen Drittel des Hofes mündete. Sie stieg hinunter, beugte sich über die Balustrade und
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