Der Schattenesser
hier, mein Fräulein?« fragte er, als Sarai noch immer keine Anstalten machte, mit ihm zu sprechen.
Einen Augenblick lang erwog sie, einfach fortzulaufen, die Treppen hinauf, hoch aufs Dach und auf der anderen Seite durch die Balken wieder hinunter. Aber sie war das Fortlaufen leid, und trotz aller Merkwürdigkeiten schien Nadeltanz ihr doch ungefährlich. Eines aber würde sie auf gar keinen Fall tun: sein Theater betreten.
Dabei stand das bemalte Tor nun offen. Nadeltanz war herausgetreten, machte aber keine Anstalten, sie zu verfolgen. Er stand einfach nur da, drehte den Stock zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie lächelnd. Es war ein freundliches Lächeln, keineswegs dämonisch wie das der Teufelsfratzen auf seinem Tor. Sarais Anwesenheit schien ihn nicht im geringsten zu verwundern, er sah fast aus, als hätte er sie erwartet.
Sie - oder eine andere?
Er verwechselt mich! schoß es Sarai durch den Kopf. Er muß mich mit jemandem verwechseln, auf den er gewartet hat.
»Nun?« fragte er ohne eine Spur von Ungeduld.
»Ich ... ja«, erwiderte sie schließlich. Was hätte sie auch sagen sollen?
Nadeltanz verbeugte sich und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das offene Tor. »So tretet denn ein, mein Fräulein.«
»Später«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Ich habe etwas ... vergessen.«
Der Spielmeister richtete sich wieder auf und sah sie verwundert an. »Vergessen? Etwas Wichtiges?«
»O ja«, entgegnete sie schnell und zwang sich zu einem höflichen Lächeln. »Sehr wichtig. Ich hole es und komme gleich wieder.«
»Aber die Vorstellung wird bald beginnen«, sagte er betroffen. Sie winkte aufgeregt ab und hoffte, er würde ihr Zittern nicht bemerken. »Ich bin schnell zurück.« Sein Gesicht wurde noch fahler. »Mein Fräulein, alle warten nur auf Euch.« »Ich komme sofort zurück«, sagte sie und drehte sich wieder zur Treppe um.
»Was werden die anderen sagen?« fragte er traurig. »Wie soll ich ihnen gegenübertreten?
«Vielleicht träumte sie. Aber, nein, so verwirrt war sie nicht, daß sie die Wirklichkeit nicht vom Traum zu unterscheiden wußte.
»Fangt ohne mich an«, schlug sie vor und setzte einen Fuß auf die erste Stufe. »Die anderen werden das verstehen.«
»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte er leise, ohne seine Enttäuschung zu verhehlen. »Man hat fest mit Euch gerechnet.«
Sarai zögerte.
Nadeltanz blickte sie sanftmütig an. »Ihr seid doch das Fräulein, auf das alle warten, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete sie hastig und überraschte sich selbst damit. »Ja, das bin ich.«
Der alte Spielmeister wirkte erleichtert. »Verzeiht mir«, bat er sittsam, »aber manchmal kommen mir Zweifel an meinen eigenen Gaben. Wollt Ihr denn wirklich nicht eintreten?«
Sarai verstand nicht, von welchen Gaben er sprach, machte aber einen Schritt die Treppe hinunter. Durch die offene Tür trat sie zurück auf den Hof.
Nadeltanz lächelte ihr aufmunternd zu. »Seht Ihr, so wichtig kann es doch gar nicht sein, was Ihr vergessen habt.«
»Vielleicht nicht«, sagte sie vage.
In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Wer waren jene >anderen< von denen der Spielmeister sprach? Die Hühnerweiber? Wohl kaum. Schließlich hatten ihr die drei alten Frauen die Söldnergarde Maximilians auf den Halsgehetzt.
Was aber, wenn die drei gar nicht zu den Hühnerfrauen gehörten? Wenn all das nur eine unglückliche Verwicklung des Schicksals war? Doch auch diese Lösung wollte ihr nicht gefallen.
Wer kam noch in Frage? Sarai mußte sich eingestehen, daß sie nicht die leiseste Idee hatte. Dabei verlangte es sie vor allem zu erfahren, mit wem Nadeltanz sie verwechselte. Falls es doch die Hühnerfrauen waren, die in diesem Theater warteten, dann mochte es sich um eine Art Aufnahmeritus handeln. Sie hatte von geheimen Gesellschaften und ihren Bräuchen gehört, es wurde gemunkelt, daß es viele davon in der Stadt gab. Gut möglich also, daß Nadeltanz sie für eine neue Anwärterin hielt.
War es nicht genau das, was Cassius geplant hatte? Sarai, die in die Reihen der Hühnerweiber aufgenommen wurde - das hätte ihm gefallen. Ob nun unter ihrem eigenen oder dem Namen einer anderen, war dabei gleichgültig.
Sie war nahe daran, sich darauf einzulassen. Dann aber kamen ihr neue Zweifel: Sicher würde man sie gleich als Betrügerin entlarven, denn die wahre Anwärterin mußte vielen der Frauen bekannt sein.
Nadeltanz wirkte nun zum erstenmal ungeduldig, sagte aber nichts. Sarai machte einen weiteren Schritt
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