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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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abbringen, wollte sie mit sich reißen, aber Sarai widerstand ihr mit aller Kraft, und sie war froh, daß da jemand war, der sie führte.
    Kaspar erklärte ihr viele Dinge: Wie er sich ins Kanonenrohr setzte, während die Lunte brannte, wie er sich, geschützt von einer Rüstung, über weite Entfernungen schießen ließ, zumeist in den Fluß, weil das weich sei bei der Landung, und daß er all das ganz allein gebaut habe, sehr ausgeklügelt, sehr gewissenhaft, alles ganz allein, ohne Hilfe. Er sei schon ein wenig stolz darauf, und wenigstens könne auch sie sagen, daß es ihr gefalle und sie gerne sehen würde, wie er sich in den Fluß schießen lasse.
    »Ich würde gerne sehen, wie du dich in den Fluß schießen läßt«, sagte sie.
    Sein Blick ging durch sie hindurch in die Ferne.
    »Wenn die Liga wieder fort ist«, sagte er, »und wenn alles ist wie früher, dann will ich wieder fliegen. Ganz bestimmt will ich das. Du kannst dann zusehen, wenn du magst.«
    »Das mag ich bestimmt«, erwiderte Sarai und meinte es ehrlich. Er war ein netter Kerl, ungefähr so alt wie sie, noch jung also, und er hatte diese andere Welt vielleicht schon für sich entdeckt, oder war zumindest auf dem besten Weg dorthin.
    »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie, denn das Himmelsviereck über dem Hof hatte sich dunkelgrau gefärbt. Der Abend kam, und sie wollte zurück zu Cassius. Es gab vieles, über das sie mit ihm sprechen mußte.
    »Wirst du kommen, wenn ich fliege?« fragte Kaspar traurig und hoffnungsvoll zugleich.
    »Ich komme bestimmt«, versprach sie.
    Er legte den Kopf schräg wie ein junger Hund. »Vielleicht fliegen wir gemeinsam, weit über den Fluß hinaus.« So ein Schwärmer, dachte sie und beneidete ihn darum. »Vielleicht«, sagte sie. Dann wandte sie sich ab und ging. Außen am Tor sah sie sich noch einmal um. Kaspar kletterte in das aufrechte Kanonenrohr, glitt hinein und war verschwunden.
    Sie nahm die üblichen Wege, über die Mauer hinweg und durch den Königsgarten. Kein einziger Söldner begegnete ihr. Eilig schlüpfte sie durch das Loch am Fuße des Mihulka-Turms und rannte die Treppen hinauf.
    Cassius schmorte ein Pulver über grüner Flamme, als sie das Laboratorium unterm Dach betrat.
    »Sarai!« entfuhr es ihm erfreut. Erleichterung lag in seiner Stimme, und er umarmte sie, wie ein besorgter Vater seine Tochter umarmt, wenn sie nach ihrem ersten Stelldichein nach Hause kommt, in der stillen Hoffnung, er erhielte sie unversehrt zurück.
    Er löschte die Alchimistenflamme, zündete statt ihrer eine Kerze an, und bald schon saßen sie sich unter einem
    der dunklen Turmfenster gegenüber, im Licht der kleinen Flamme, warm, flackernd, bereit für eine Geschichte. Selbst Saxonius hielt seinen Schnabel.
    Sarai erzählte Cassius alles, was vorgefallen war, von ihrem Eindringen ins Haus der Edeldamen, über ihre Flucht vom Hradschin bis hin zur Vorstellung im Schattentheater. Allein ihre Begegnung mit Kaspar verschwieg sie. Vielleicht hatte Cassius sie ein wenig zu sehr wie ein Vater umarmt.
    Als sie den Namen Leander Nadeltanz erwähnte, zuckten die Augenbrauen des Alchimisten nach oben und verrieten seine besondere Aufmerksamkeit. Und als Sarai wiedergab, was der Mann gesagt und welch seltsame Visionen sie beim Spiel auf der Bühne empfangen hatte, da färbte sich das Gesicht des Mystikers grau, und er stützte es erschüttert in beide Hände.
    Als er aufblickte, sah er Sarai eindringlich an. »Du hast den Ewigen getroffen«, sagte er, »den Ohne-Angst-Mann.«
    »Den was?« fragte sie verwundert.
    Cassius schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht fassen. »Ich weiß jetzt, wer er ist, aber mir war nicht gleich klar, daß er sich heute Leander Nadeltanznennt. Fraglos habe ich ihn früher schon gehört, aber jenen, der sich dahinter verbirgt, kannte ich bislang nur unter anderen Namen. Er hat derer viele, mein Kind, und so undurchsichtig wie das Geflecht seiner Namen sind auch seine Absichten. Aber es wundert mich nicht, daß er gerade jetzt in der Stadt auftaucht.«
    »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie trotzig. »Was meinte Nadeltanz, als er vom Reich der Ursachen sprach?«
    »Das Reich der Ursachen, ja«, murmelte Cassius nachdenklich, »damit hat es eine uralte Bewandtnis. Die meisten haben sie längst vergessen. Es hat mit Magie zu tun, oder wenigstens mit etwas, das man gemeinhin so nennt.«
    Sarai verstand noch immer nicht, wovon er sprach, doch diesmal schwieg sie geduldig und wartete darauf, daß

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