Der Schattenesser
betäubt von ihrem Erlebnis. Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Nicht viel,
nahm sie an, aber ihr Körper schmerzte, als hätte er viel zu lange auf dem unbequemen Stuhl gesessen.
Wer weiß, dachte sie wirr, vielleicht ist es längst Abend, und Cassius wartet. Ich muß aufstehen, kam ihr eine plötzliche Erkenntnis. Ich muß hier fort. Muß verhindern, was ich gesehen habe. War das die Zukunft? Lagen die Ursachen, von denen Nadeltanz gesprochen hatte, in dem, was noch geschehen würde und nicht in der Vergangenheit? Ursachen wofür? Für das Schattensterben? Wie sollten ihr die Bilder, die sie gesehen hatte, helfen?
Aber Nadeltanz hatte keine Hilfe versprochen, nur Einsichten.
Sarai sprang von ihrem Stuhl, lief wie im Traum an den Reihen vorbei, immer noch von Bildern umwirbelt. Hinaus in den Vorraum, durch den Korridor mit den Holzkulissen, nach draußen auf den Hof, die Treppen hinauf. Hinter ihr strömten noch andere aus dem bemalten Tor, aber sie achtete nicht auf sie. Sie verstand nicht, was mit ihr geschehen war, aber sie wollte fort von hier, irgendwohin, wo es sicher war.
Es war hell, noch kein Abend, als sie über das Dach und die Strickleiter kletterte, die Balken hinunter und hinaus auf die Straße. Dort irrte sie umher, ziellos, fast wie schlafend, mal geradeaus, mal um Ecken und dann in einen anderen Hof.
Dort traf sie Kaspar, die lebende Kanonenkugel.
»Ich bin Kaspar«, sagte der Junge, »die lebende Kanonenkugel. Ich bin ein verzauberter Frosch.«
Er trug bunte, enge Kleidung, ein grelles Narrenkostüm voller Wimpel und Spitzen. Auf seinem braunen Haarschopf saß eine Kappe, verwegen schräg, mit zwei langen roten Federn. Er hatte ein schmales Gesicht, eingefallen vom Hunger, aber recht hübsch, bekäme er ein paar Tage lang ein nahrhaftes Mahl vorgesetzt. Seine Augen waren groß, sein Lächeln verschmitzt. Er war höchst erstaunt, als Sarai, immer noch von den Visionen des Schattentheaters bedrängt, um die Ecke bog und gegen ihn prallte. Beide stolperten überrascht einen Schritt zurück, schauten sich verdutzt an, dann begann er schallend zu lachen. Sarai kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen, und doch nahm sein Lachen sie sofort für ihn ein. Noch immer fühlte sie sich, als schwebe sie in einem unwirklichen Dämmerzustand zwischen den Häusern einher, und dieser merkwürdige Junge paßte recht gut in ihr verschobenes Bild der Welt.
Nachdem er sich vorgestellt hatte, fragte er neugierig: »Und wer bist du?« »Sarai«, sagte sie und fügte trocken hinzu: »Ich bin keine Prinzessin.« Er starrte sie einen Augenblick lang entgeistert an, dann begriff er und lächelte.
»Ich bin auch kein Prinz«, sagte er, »sondern ein Frosch. Verstehst du? Gewöhnlich ist es umgekehrt: Die Prinzessin küßt den Frosch, und der verwandelt sich in einen Prinzen. Wenn mich jemand küßt, werde ich wieder zum Frosch.«
»Gut, daß diese Gefahr nicht besteht«, bemerkte sie.
Sein Grinsen wurde breiter. »Willst du nicht wissen, was eine lebende Kanonenkugel ist?«
»Oh«, machte sie und tat beeindruckt, »ich bin sicher, du wirst es mir erklären.«
Er drehte sich um und zeigte auf eine Kanone mit riesigem Rohr, rot und gelb und grün bemalt, die in einer Ecke des menschenleeren Hofes stand. Sarai fragte sich bereits, was sie ausgerechnet hierher geführt hatte.
Das Kanonenrohr wies aufrecht zum Himmel.
»Regnet es da nicht rein?« fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Wird im Moment sowieso nicht benutzt. Wegen der Liga, verstehst du?«
Es ärgerte sie, daß er ständig >Verstehst du?< sagte, als wäre sie ein kleines Kind oder geistig nicht ganz bei sich. Vielleicht aber lag er damit gar nicht so falsch. Was tat sie hier? Wie kam sie hierher? War sie nicht gerade noch in Nadeltanz' Schattentheater gewesen?
Etwas geschah mit ihr, etwas, auf das sie keinen Einfluß hatte. Sie verirrte sich in sich selbst.
Derweil redete Kaspar ununterbrochen weiter, nahm sie gar an der Hand und führte sie über den Hof zu dem bunten Geschütz. Sie ließ es geschehen, nicht willenlos, aber merkwürdig offen gegenüber allen Seltsamkeiten. Dieser Junge erschien ihr wie ein Fährmann in eine neue Welt der Wunder, einer, dem sie ihr Vertrauen schenken mußte, wenn sie die andere Seite des wilden Stroms erreichen wollte. Nadeltanz hatte ihr nur einen Ausblick aufs andere Ufer gewährt, sie aber war nun bereit, auch die nötigen Schritte zu tun. Die Strömung, die Wirklichkeit, wollte sie davon
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