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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verstohlen zu ihren beiden Nachbarinnen schauen, doch ihr Blick blieb gebannt auf die Bühne gerichtet, so heftig, bis sie glaubte, die Schwärze sei so tief wie ein Abgrund
    - und etwas rege sich darin. Ja, da stieg etwas aus der Dunkelheit empor, wie Geister aus einem bodenlosen Felsenbrunnen, langsam, aber nun immer deutlicher. Ihr war, als kämen die Erscheinungen tatsächlich aus der Tiefe der Bühne, obgleich sie doch genau gesehen hatte, daß der Abstand zwischen Publikum und Vorhang höchstens vier Schritte maß. Nun aber sah es aus, als sei da keine Rückwand mehr, nur ein nachtschwarzer Schlund, aus dem sich etwas ins Zwielicht der Kerzen schob.
    Plötzlich waren da Gestalten, ganz nahe vor ihr. Sie hatten lange, biegsame Arme und Beine, dünne Oberkörper und übergroße Köpfe. Sie streckten und dehnten sich, sprangen auf und ab, schüttelten die Schädel. Ein fremdartiger Tanz formte sich aus ihren Bewegungen.
    Sarai entdeckte schwarze Körper hinter den Gestalten, vielleicht Menschen, völlig verhüllt, die mit ihren Gliedern vorzuführen schienen, was die grotesken Gestalten im Vordergrund ihnen nachmachten. Da begriff sie: Die verzerrten Figuren waren nichts als Puppen, die an den Armen und Beinen ihrer schwarzverhüllten Puppenspieler befestigt waren. Vor dem ebenso schwarzen Hintergrund waren die Spieler kaum zu erkennen, und so sah es aus, als bewegten sich die Puppen aus eigener Kraft.
    Im selben Augenblick, da sie die simple Illusion durchschaute, verlor die Darbietung auf der Bühne an Reiz und Geheimnis; sie fragte sich, ob Leander Nadel-tanz nicht einfach ein schnöder Gaukler war, der mit der Trauer seines Publikums Scherze trieb. Die Schatten im Titel seines Theaters waren nur Schatten im übertragenen Sinne, nämlich jene schwarzen Puppenspieler, die unzertrennlich mit jeder Regung ihrer Figuren verbunden waren.
    In einem Augenblick seltsamer Klarheit wurde ihr bewußt, daß dies alles zu Cassius' Worten über das Wesen des Schattens paßte. Hier waren es die schwarzen Puppenspieler, eben die Schatten, die ihre Puppen führten. Und war es nicht mit den Menschen ebenso? Wenn die Seele im Schatten wohnte, mußte dann nicht auch der Mensch seinem Schatten, also der Seele, gehorchen, stattumgekehrt? Waren sie alle, jedes einzelne Lebewesen auf Gottes Erde, nur die ausführenden Gewalten, die allesamt, ohne es selbst zu bemerken, dem Willen ihrer Schatten folgten? Somit erlaubte Nadeltanz' Theater-spiel tatsächlich einen Blick hinter die Dinge. Er enthüllte seinem Publikum die wahre Wirklichkeit.
    Nachdem Sarai dies bewußt geworden war, spürte sie in sich die Bereitschaft, sich den Botschaften dieser seltsamen Darbietung noch weiter zu öffnen. Nadeltanz hatte einen Blick ins >Reich der Ursachen< versprochen, und Sarai war nun bereit, ihm dorthin zu folgen. Sie vergaß, was um sie war, spürte nicht mehr den Wunsch, zu den beiden Frauen zu schauen. Ihre Augen waren allein auf das Geschehen auf der Bühne gerichtet, sie zogen sie tiefer und tiefer in jene andere Wirklichkeit, selbst auf die Gefahr hin, sich vollends darin zu verlieren. Sie ahnte nichts von dieser Bedrohung, spürte nur einen Hunger nach mehr, ein Streben nach Verstehen.
    Die Schwärze schien sie nun von allen Seiten zu bedrängen, und der Tanz der grotesken Puppen mit ihren schlackernden, sich windenden Gliedern setzte sich in ihrem eigenen Inneren fort. Der Wirbel der bunten Figuren wurde zu einem Sturm der Bilder, ein Strudel aus Szenen und Empfindungen, der sie tiefer in seine Mitte zog.
    Sie sah: ein Wesen, vielleicht menschlich, vielleicht nicht, umgeben von einer Aura aus weißem Licht, gleißend und so hell, daß sie den Blick davon abwenden mußte.
    Sie sah: eine dunkle Kammer und darin einen Mann, der mit jemandem sprach - vielleicht mit ihr selbst?
    Sie sah: eine Menschenmenge, Tausende und Abertausende, die kreischend aufeinander einschlugen, keine Soldaten, sondern Männer und Frauen in gewöhnlicher Kleidung, ihre Gesichter verzerrt von Haß und Mordlust, getrieben vom Willen zu töten und zu zerstören.
    Und sie sah: einen Mann, blutüberströmt und schmutzig, der die leuchtende Mondsichel vom Nachthimmel pflückte und wie eine Klinge in Händen hielt, eine Sense aus Licht, und er stürmte damit auf sie zu, schneller, immer schneller - bis der Strudel sie zurück ins Diesseits spie.
    Die Puppen waren von der Bühne verschwunden, Nadeltanz hatte wieder ihren Platz eingenommen. Sarai schnappte nach Luft, wie

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