Der Schattenesser
nirgends zu sehen.
Nadeltanz führte Sarai an den Sitzenden vorüber und wies ihr einen Platz in der ersten Reihe zu, der einzige, der bislang freigeblieben war. Rechts und links von ihr saßen zwei Frauen in einfachen Kleidern, mehr war aufgrund der Kapuzen nicht zu erkennen. Sie sprachen Sarai nicht an, musterten sie nur argwöhnisch aus dem Dunkel ihrer Augenschlitze.
Nadeltanz trat auf die Bühne. »Meine Damen, meine Herren«, sagte er feierlich, verbeugte sich und schlenkerte dabei mit seinem Stock, »wir sind nun vollzählig. Unser neuester Zuwachs ist soeben eingetroffen. Ich bitte um Beifall für - Fräulein Sarai!«
Ebenso gut hätte er einen Eimer Eiswasser auf sie niederkippen können. Er kannte ihren Namen! Ihren wahren Namen! Es hatte nie eine Verwechslung gegeben.
Einige Zuschauer klatschten verhalten in die Hände. Die meisten aber kamen Nadeltanz' Aufforderung nicht nach. Auch die beiden Frauen an ihrer Seite regten sich nicht.
Die Angst drohte Sarai zu überwältigen. Was ging hier vor? Was wollten diese Leute von ihr? Woher kannten sie ihren Namen? Und vor allem: Wie hatten sie ahnen können, daß sie hierherkommen würde? Sie selbst hatte es doch bis zu ihrer Flucht vom Hradschin nicht gewußt!
Nadeltanz blickte von der Bühne auf sie herab. Er wirkte plötzlich sehr groß, sehr erhaben. Jedoch schien das Lächeln, das er ihr schenkte, durchaus aufmunternd, keineswegs bedrohlich. Vielleicht wollte er einfach nur freundlich sein.
Sarai begriff nichts mehr. Ihre Verwirrung war vollkommen. Sie konnte nur noch die tausend Fragen abstreifen, die sie selbst sich stellte, und abwarten, was auf sie zukam. Sie hatte sich nie zuvor so verloren, so ausgeliefert gefühlt.
»Ihr alle, verehrte hohe Herrschaften, seid Opfer«, verkündete Nadeltanz klangvoll. »Ihr alle mußtet einen Verlust erleiden - aber Ihr müßt ihn nicht dulden.«
Der Spielmeister wußte also von ihrem Vater. Mochte der Teufel wissen, woher.
»Etwas, das für den Tod Eurer Lieben verantwortlich ist, schleicht immer noch durch die Gassen«, fuhr Nadel-tanz fort und ging dabei auf der Bühne auf und ab. Sein Umhang mit den Mondgesichtern und Sternen knisterte leise. »Es schlägt wieder und wieder zu. Täglich verlieren Menschen in dieser Stadt ihren Schatten. Und sie alle werden enden wie jene, die Ihr betrauert.«
Es dauerte einen Augenblick, ehe Sarai klar wurde, daß Nadeltanz in der Tat zu allen Versammelten sprach, nicht allein zu ihr. Demnach mußte es ihm gelungen sein, die Angehörigen der Opfer des Schattenmörders ausfindig zu machen. Was konnte er ihnen versprochen haben, daß sie seiner Einladung so bereitwillig gefolgt waren? Über was für Möglichkeiten gebot dieser Mann, daß ihm derlei gelingen konnte?
Er hat gewußt, daß ich kommen würde! dachte siewieder. Er hat es gewuß !
War Cassius hier? Plötzlich spürte Sarai das brennende Verlangen, allen Anwesenden die Kapuzen von den Köpfen zu reißen. Sie wollte sehen, wer diese Menschen waren, ob welche unter ihnen waren, die sie kannte.
Cassius, flehte sie in Gedanken, wenn du hier bist, dann gib dich zu erkennen!
»Dürstet Ihr nach Rache?« fragte Nadeltanz. »Dürstet Ihr nach Vergeltung?«
Er machte eine Pause, aber das Publikum gab keine Antwort. Nur eine Frau begann leise zu schluchzen, irgendwo in der dritten oder vierten Reihe.
»Wollt Ihr wissen, wer Euch und den Euren das angetan hat? Sucht Ihr die Lösungen? Sucht Ihr die - Ursachen?« Er betonte das letzte Wort, indem er seiner Stimme einen tiefen, geheimnisvollen Klang gab und zugleich seinen Stock in die Richtung des Publikums schwenkte.
»Das Schattentheater gewährt Euch Einblick ins Reich der Ursachen. Es zeigt Euch, was war und was sein wird. Doch seid gewarnt«, sagte er leise und beugte sich dabei über den Rand der Bühne hinaus genau auf Sarai zu, »jeder sieht etwas anderes im Spiel des Schattentheaters, jeder sieht nur das, was seins ist. Manche werden nicht erkennen, was die Schatten sagen wollen. Andere werden Dinge sehen, die sie längst kennen. Und wieder andere werden die wahren Ursachen entdecken, oder nur Hinweise darauf.« Nadeltanz lächelte wieder, verbeugte sich mit steifem Oberkörper und verschwand mit drei schnellen Sätzen hinter dem schwarzen Vorhang.
Im gleichen Moment verlöschten die meisten Flammen auf den Kerzenleuchtern zu beiden Seiten der Bühne, bis nur noch zwei einzelne Lichter brannten. Atemlose Stille herrschte unter den Zuschauern. Sarai wollte
Weitere Kostenlose Bücher