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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wissen nicht, was es ist, das sie spüren. Und doch besteht kein Zweifel daran: Es sind die gefallenen Engel.«
    Sarais Gedanken drehten sich im Kreis, ein Strudel, der ihre Vernunft in einen fantastischen Abgrund riß. »Dann war der mal'ak Jahve einer von ihnen?«
    »Nein«, entgegnete der Golem. »Er ist nicht gefallen. Er wurde herabgesandt, um sie zu suchen. Ich bin nicht sicher, was vorgefallen ist, aber einige von ihnen müssen gegen ... nun, nennen wir es: >Gottes Gesetze< verstoßen haben.«
    »Was hat das mit den Schatten zu tun?«
    »Der Schatten des Menschen beinhaltet zwei Dinge. Zum einen die Seele.«
    Sarai nickte. Das wußte sie bereits von Cassius.
    »Das zweite Element des Schattens ist der Schutzengel«, erklärte er. »Jeder Mensch hat einen, auch wenn er nicht daran glaubt. Die Schutzengel halten Gottes Hand über die Menschen.« Er machte eine Pause, lehnte gedankenverloren den Kopf zurück und starrte hinauf zu den Dachbalken. »Es muß einigen der Gefallenen gelungen sein, die Schutzengel aus den Schatten mancher Menschen zu verdrängen und ihre Stelle einzunehmen. Verstehst du? Sie verstecken sich vor Gott in den Schatten der Menschen, vielleicht nur einige, vielleicht viele. Gott aber kann das nicht zulassen, denn es verstößt gegen seine Gesetze. Deshalb sandte er den mal'ak Jahve herab, um diesen Verstoß zu ahnden. Er vernichtet jene der Gefallenen, die sich in die Schatten zurückgezogen haben.«
    »Aber dabei tötet er die Menschen, denen sie gehören.«
    »Ich fürchte, das nimmt er in Kauf. Tag und Nacht habe ich überlegt, seit ich aus meinem Schlaf erwacht bin. Und ich habe lange gebraucht, bis mir klar wurde, daß nicht nur ein einziger Engel unter die Menschen gefahren ist - statt dessen gibt es viele von ihnen, die Heerscharen der Gefallenen, und der mal'ak Jahve ist hier, um sie zu richten. Einst war er der Würgeengel, er war der Pestengel und die zehnte Plage. Nun ist er der Schattenesser.«
    »Wie kannst du all das wissen?« fragte Sarai mit einer Spur von Mißtrauen.
    »Rabbi Löw hätte es gewußt. Und was er weiß, das weiß auch ich.«
    Sarai dachte einen Augenblick nach. »Wenn der Bote es aber auf meinen Schatten abgesehen hat, bedeutet das etwa...«
    »Daß auch in deinen Schatten einer der Gefallenen gefahren ist? Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich könnte dir darauf eine Antwort geben. Wer weiß, wie gewissenhaft der mal'ak Jahve in seinem Handeln ist. Die Frage ist: Befiehlt Gott ihm, welche Schatten er vernichten soll? Oder zerstört der Bote sie nach eigenem Gutdünken? Vielleicht nimmt er an, einer, der mit einem anderen zusammengekommen ist, dessen Schatten befallen war, könnte sich ... angesteckt haben, wie mit einer Krankheit. Vielleicht glaubt er, der Gefallene, der im Schatten deines Vaters hauste, sei auf dich übergewechselt.«
    »Du kennst meinen Vater?« fragte sie erstaunt.
    »Der Vogel Koreh hat mir von ihm berichtet.«
    »Der Vogel wer?«
    »Koreh. Wie auch immer - was willst du als nächstes unternehmen?«
    Sie war überrascht, daß er sie das fragte. Überrascht und ein wenig enttäuscht. Sie hatte gehofft, er könne ihr sagen, was zu tun sei. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie matt. »Was rätst du mir?«
    »Wie kann ich dir etwas raten, wenn ich dein Ziel rächt kenne? «
    »Mein Ziel?«
    »Ja, natürlich. Was willst du tun? Deinem Schicksal untätig entgegensehen? Den Schattenesser bekämpfen?«
    Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wer könnte einen Engel des Herrn besiegen?«
    »Eine gute Frage. Eine bessere aber wäre: Kann man ihn besiegen? Und will man es überhaupt?«
    Sarai wußte lange keine Antwort darauf und schwieg.
    Schließlich fragte sie: »Weißt du, wo er jetzt ist?«
    »Der Vogel Koreh wird es mir sagen. Später.«
    »Wird der Bote mich erneut angreifen, wenn ich jetzt die Kammer verlasse?«
    Er schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mehr in der Synagoge. Ich vermute, er hat sich vorerst anderen Opfern zugewandt.«
    Sarai stand auf und trat auf ihn zu, bis nur noch eine Armlänge sie voneinander trennte. »Wenn ich mich gegen ihn stelle und versuche, ihm zu entkommen, wirst du mir helfen?«
    »So weit ich es vermag, ja. Dazu wurde ich erschaffen, um die Judenstadt und ihre Bewohner zu retten. Auch dich, Sarai. Und denk daran, du hast einen weiteren Helfer.«
    »Nadeltanz?«
    »Immerhin hat er dich auserwählt.«
    Sie nickte nachdenklich. »Das hat er wohl. Ich danke dir, Golem des Rabbi Löw.« »Mein Name ist

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