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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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weinend an Lucius' Schulter sank.
    Jener stellte ihm die üblichen Fragen, ganz so, wie er es gelernt hatte: Wo war der Vater, als seine Tochterstarb? Warum hatte er nichts gehört? Hatte das Mädchen sich am Tag zuvor merkwürdig benommen? War sie sonstwie auffällig geworden?
    Der Geldleiher sagte, seine Tochter sei allerdings ungewöhnlich still gewesen, seit Tagen schon. Sie habe wenig gesprochen, kaum gegessen und sich die meiste Zeit über im Bett verkrochen. Er und seine Frau hatten angenommen, es sei die Angst vor der Liga, die das Kind in die Verzweiflung trieb, denn verzweifelt waren sie doch alle, oder?
    Lucius fragte weiter: Ob das Mädchen in letzter Zeit mit Fremden zusammen gewesen und ob es gläubig gewesen sei. Ob es manchmal vom Tod gesprochen habe. Und ob es, abgesehen von der Niederlage gegen den Kaiser , irgendeinen anderen Grund für das seltsame Verhalten des Kindes gegeben haben könnte.
    Nein, nein, nein, beharrte der Vater, es habe alles zum besten gestanden, immer schon, es habe ihnen doch an nichts gefehlt, keinem der Kinder. Ob der Herr Stadtgardist denn etwa einen Verdacht habe, daß es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, wollte er wissen.
    Das verneinte Lucius und verabschiedete sich knapp. Der Vater fragte, wohin er nun mit der Leiche solle. Immerhin sei doch Krieg, und die meisten Toten verschwänden achtlos in Massengräbern. Das aber wolle er seinem Kind nicht antun.
    Lucius sagte, damit müsse er selbst zurechtkommen, schließlich verfüge er doch über alle Mittel.
    Der Geldleiher weinte wieder. Lucius ließ ihn stehen und schloß hinter sich die Tür.
    Wohin mit dem Kind? Woher um Himmels willen sollte er das wissen?
    Wohin mit Bozena, wenn sie starb?
     
     
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KAPITEL 6
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    M ichal erwachte aus tiefem Schlaf, nach einer Zeit, die ihm vorkam wie viele Tage. Er lag in einem Bett aus getrockneten Fichtennadeln. Ihre Spitzen bohrten sich durch Wams und Hose in seine Haut, aber er bemerkte es kaum. Über ihm krallten sich Äste und Baumwipfel in graues Dämmerlicht.
    Sein erster Gedanke galt der Kette.
    Seine Hand fuhr hinauf zum Hals, und, Gott sei Dank, sie war noch da. Die sieben Hühnerkrallen lagen reglos auf seiner Brust. Seine Finger streiften über die dürren Glieder, fast zärtlich. Kein Leben war in ihnen.
    Weshalb ziehe ich nicht weiter nach Prag, dachte er, dorthin, wo Nadjeschda immer sein wollte?
    Der Gedanke an Nadjeschda und Modja tat noch immer weh, aber nicht mehr so sehr wie vor seinem Schlaf. Er spürte Trauer in sich, aber sie war tief in seinem Inneren, etwas Fernes, Verschwommenes.
    Michal stand auf und blickte sich um. Um ihn war nichts als Wald, majestätisch hoch und dunkel, eine Säulenhalle aus Holz und Nadeln und gefallenem Laub. Ein bitterkalter Wind strich zwischen den Stämmen einher, und er wußte, daß er bald festere Kleidung brauchte, sonst würde er erfrieren.
    Der Boden strebte unmerklich aufwärts, erst nur ein wenig, dann immer steiler. Michal schleppte sich schwerfällig bergauf, seine Glieder waren steif vor Kälte. Schließlich erreichte er den Bergkamm, überschattet von einer Reihe mächtiger Tannen. Er schob ihr raschelndes Geäst auseinander und zwängte sich hindurch. Zwei Schritte vor ihm endete der Boden abrupt an einer glatten Felskante. Der Eiswind peitschte ihm ins Gesicht und brannte in seinen Augen. Trotzdem hatte er von hier oben eine gute Aussicht über die Landschaft, durch die ihn sein weiterer Weg führen würde.
    Die Felswand zu seinen Füßen fiel nur wenige Schritte tief bergab, dann lief sie in einem Hang aus, der dicht von Bäumen und dornigem Buschwerk bedeckt war. Ein schmaler, beinahe zugerankter Pfad schlängelte sich zwischen kahlen Stämmen einher, eher ein Graben als ein echter Weg, ausgewaschen vom Schmelzwasser, das im Frühjahr von den Bergen in die Tiefe jagte.
    Der Hang führte abwärts in eine einsame, wilde Landschaft, einem sanften Auf und Ab von Hügeln, manche bewaldet, andere kahl und grau wie Knochenschädel. Ein ungleichmäßiges Schattenraster lag über dem Land, grauschwarze Abbilder der Wolkenburgen, die gigantisch am Abendhimmel schwebten.
    Die Rauchfahne, die aus einem nahen Talgrund aufstieg, hätte Michal in all dem Hell und Dunkel fast übersehen. Erst als ein Schwärm von Krähen durch die finstere Säule stieß und sie mit ihren Flügeln durcheinanderwirbelte, zog sie seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Hügel versperrte den Blick in das Tal, doch je längerer hinsah, desto

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