Der Schattenesser
Josef.« »Josef«, wiederholte sie leise.
Lucius, der letzte Stadtgardist, brachte allen, mit denen er sprach, den Tod. Die Pest kauerte wie ein unsichtbarer Teufel auf seinem Rücken und fuhr jedem in den Leib, der in seine Nähe kam. Manche vermeinten, ein Frösteln zu spüren, andere einen kurzen Schwall von Hitze, und wieder andere spürten gar nichts. Und doch waren sie alle des Todes.
Am Morgen des vierten Tages der Besatzung hatte sich die Zahl der Selbstmörder ohne Schatten auf sechzehn erhöht. Nach dem Leichnam im Haus an der Geistgasse war Lucius auf drei weitere Opfer gestoßen. Erfand sie wie zufällig auf seinem ziellosen Gang durch die Judenstadt. Es war immer das gleiche: Aufruhr vor einem Haus, Schreie, manchmal Weinen und irgendwo ein Toter ohne Schatten. Niemand bemerkte die Veränderung. Außer Lucius. Seine Gewißheit, daß jemand anderes seine Schritte lenkte, wuchs mit jedem neuen Opfer. Allein drei Tote seit dem vorherigen Morgen. Die übrigen dreizehn hatten sich auf mehrere Wochen verteilt. Aber drei an einem Tag! Lucius war sicher, daß die Ereignisse ihrem Höhepunkt entgegenstrebten. Was für ein Höhepunkt sollte das sein? Der Selbstmord einer ganzen Stadt, in der niemand einen Schatten warf? Der Untergang Böhmens, ja der ganzen Welt? Die Apokalypse, von der es in der Bibel hieß, sie komme mit Posaunen und scheußlichen Ungetümen über das Land?
Er wußte es nicht, und es war ihm gleich. Er suchte einen Mörder, das allein zählte. Die Erfüllung seiner Pflicht. Und ein würdevolles Sterben für Bozena.
Der Zustand seiner Frau hatte sich verschlechtert. In der Nacht hatte sie soviel Blut erbrochen, daß er geglaubt hatte, sie könne unmöglich noch mehr davon in ihren Adern haben. Ihre Geschwüre wurden größer und größer, einige waren aufgeplatzt. Eine helle, zähe Flüssigkeit quoll daraus hervor und beschmutzte die durchgelegenen Laken. Es stank entsetzlich in der kleinen Unterkunft, und die ersten Nachbarn waren aufmerksam geworden. Lucius versperrte die Tür, als sie klopften. Bozena versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, denn das Pochen klang für sie um ein vielfaches lauter; sie flüsterte, es treibe sie in den Wahnsinn. »Tu etwas!«
flehte sie ihn an. »So tu doch etwas.« Da vernagelte Lucius die Tür mit Brettern und abgebrochenen Stuhllehnen, so fest, bis nicht einmal ein Rammbock hätte hindurchbrechen können. Als die Nachbarn bemerkten, daß man sie nicht einlassen würde, ließen sie ab und gingen zurück in ihre eigenen Unterkünfte. Bozena schenkte ihm zwischen schwarzen Beulen den Hauch eines Lächelns.
Bevor Lucius sich zu seinem täglichen Rundgang aufmachte, hatte er Bozena geküsst , auf die geschwollenen Lippen und auf die Geschwüre an ihrer Stirn. Dann schob er eine Leiter durchs Fenster, kletterte das eine Stockwerk bis zum Hof hinunter, versteckte die Leiter sorgfältig in einer Mauernische und begann seinen Dienst. Er wußte, daß er der letzte der Stadtgardisten war, und umso wichtiger war seine Aufgabe. Irgendwer mußte es tun. Irgendwer mußte den Mörder dingfestmachen.
Das sechzehnte Opfer war die Tochter eines jüdischen Geldleihers, der in einem Häuschen an der Rabbinergasse lebte. Das Mädchen war kaum fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte sich mit einem Brotmesser die Kehle durchgeschnitten, in der Nacht, während seine drei jüngeren Geschwister ungestört im selben Zimmer schliefen. Sie waren aufgewacht, weil das umhergespritzte Blut auf ihren Gesichtern trocknete.
Die Mutter des toten Kindes hatte ihre verbliebenen Sprößlinge gepackt und war mit ihnen bei den Nachbarn untergekommen. Der Vater aber war zurückgeblieben. Als Geldleiher hatte er eine schöne Summe verdient, und das Quartier der Familie war reichhaltig ausgestattet. Er mußte die Ligasöldner bestochen haben, damit sie ihm seine Besitztümer ließen. Lucius wußte, daß es nur eine Frage von Tagen war, ehe die zweite und dritte Welle von Plünderern über das Viertel hereinbrach. Irgendwann würden auch einem Geldleiher die Münzen ausgehen, und man würde alles nehmen, was übrig war. Seinen Schmuck, seine Möbel. Seine Frau und seine Töchter . Zumindest der Ältesten blieb dieses Schicksal nun erspart.
Lucius stieß am Morgen auf die Leiche des Mädchens und auf den verzweifelten Vater. Der Mann saß weinend inmitten seiner Reichtümer und wartete darauf, daß irgendetwas geschehen würde, von dem er selbst nicht wußte, was es war. Die Pest befiel ihn, als er
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