Der Schattenesser
Langsam blickte er darüber hinweg ins Innere.
Eine alte Frau stand vor ihm, keine Armlänge entfernt. Vor dem Feuer, das in ihrem Rücken brannte, war sie kaum mehr als ein schwarzer Scherenschnitt, ein gebeugter Umriß mit zotteligem, grauem Haar, das bis zum Boden reichte. Unter ihrem braunen, zerlumpten Überwurf kroch eine knöcherne Hand hervor und streckte sich ihm hilfreich entgegen.
»Komm nur, mein Junge, komm her.« Es dauerte einen Moment, ehe er erkannte, daß es ihre Stimme war, die er hörte, nicht das Knistern der Flammen. Sie klang so spröde wie zerknülltes Pergament.
Er scheute sich, ihre Hand zu ergreifen, als könne er damit einen Pakt besiegeln, für den er sich noch nicht entschieden hatte. Mit ihrer Linken klammerte sich die Frau an einen Stock, die Rechte aber wedelte weiter vor seinem Gesicht umher. Schließlich fürchtete er, sie würde ihn hinterrücks in die Tiefe stoßen, wenn er nicht danach griff, deshalb packte er sie widerwillig. Zu seinem Erstaunen ruhte in dem dürren Glied eine enorme Kraft, denn mit Hilfe der Alten gelang es ihm mühelos, über die Kante ins Haus zu steigen.
Während er noch auf den Knien im Türrahmen hockte, blickte er erneut zu der Alten auf. Einen Moment lang schien es, als genieße sie ihre erhöhte Stellung, dann wandte sie sich schlagartig um und ging auf den Stockgestützt ans Feuer.
Michal stand auf und schaute sich um. Der einzige Raum des Baumhauses war vollgestopft mit Tischen und Regalen, auf denen Schüsseln und Schalen, Bücher, Schriftrollen und Kerzen standen. Von der Decke hingen tote Tiere: Ratten, Mäuse, ein Fuchs, zwei Dachse, sogar ein Adler und - unvermeidlich - Fledermäuse. Nur ein schwarzer Kater war nirgends zu sehen. Einzige Lichtquelle war eine runde Feuerstelle in der Mitte des Raumes, über der an Ketten ein runder Kessel hing.
Auf einem schmutzigen Leinentuch am Rande der Flammen lagen vier Haufen aus rohem Fleisch, säuberlich voneinander abgegrenzt. Die einzelnen Stücke waren so kleingehackt worden, daß sich ihre ursprüngliche Form nicht mehr erkennen ließ. Der Boden war mit einer dunklen Flüssigkeit bedeckt, die im Schein des Feuers ebenso braun aussah wie alles andere in der Hütte.
Die Alte blieb neben den Fleischhaufen stehen. »Kannst du dir das vorstellen: Man sagt uns nach, wir essen Kinder.«
Michal stand immer noch reglos im Eingang und brachte kein Wort heraus. Ohne daß er selbst es bemerkte, fuhr seine Rechte wieder hinauf zur Kette. Die Alte sah es, und ihr faltiges Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Trotzdem schaute sie ihn nicht offen an. Statt dessen ging sie nun vor den Fleischhaufen in die Hocke und verdeckte sie vor Michals Blicken. Kurz darauf hörte er sie schmatzen.
»Kinder?« fragte jemand.
Michal fuhr überrascht herum. Die Stimme war aus dem Gerumpel zu seiner Rechten gekommen. Sie verwirrte ihn. Tatsächlich hatte er geglaubt, die Alte spräche mit ihm. Die Anwesenheit eines weiteren Menschen überraschte ihn. Und ein wenig erleichterte sie ihn auch. Er war also nicht allein mit der unheimlichen Frau.
Aber es war kein Mensch. Inmitten eines wilden Durcheinanders von Tiegeln, Phiolen und prallgefüllten Leinensäcken stand am Boden der Hütte eine bauchige Glasflasche. Sie war durchsichtig und reichte Michal fast bis zum Knie. Der kurze Flaschenhals war mit einem Korken verstopft. Es sah aus, als sei das Gefäß leer - er konnte das schmutzige Wirrwarr dahinter erkennen -, und doch war die Stimme eindeutig aus der Flasche gedrungen. Durch das Glas klang sie seltsam gedämpft.
Michal fühlte sich in einem Traum gefangen. Vielleicht war es nichts anderes als das: ein Traum, in dem er hilflos dahintrieb.
Die Alte schmatzte weiter. »Ja, Kinder, stell dir das vor.«
»Weshalb sollte jemand Kinder essen?« fragte die
Stimme aus der leeren Flasche.
»Das weiß der Teufel.«
»Der weiß es bestimmt.«
Die Alte kicherte. »Ja, der schon. Aber ich? Hast du je gesehen, daß ich ein Kind gegessen hätte?«
»Nur eines.«
»Ja, aber das konnte Flöte spielen. Ich wollte immer Flöte spielen. Und sonst? Irgendeines außer diesem einen?«
»Niemals«, erklang es überzeugt aus der Flasche.
»Und du müßtest es doch wissen, wenn es so wäre.«
»Allerdings«, sagte die Stimme, »ich bin dein schlechtes Gewissen.«
So, dachte Michal, die Alte hatte also ihr schlechtes Gewissen in die Flasche gesperrt, damit es ihr nicht hinderlich war. Deshalb sah es auch aus, als sei die
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