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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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des Schießens, Fechtens und Messerstechens.
    Die Alte betrachtete ihn zufrieden wie eine Mutter, die ihrem Kind beim Essen zusieht. »Brav«, lobte sie gackernd, »so ist's brav, mein Junge. Denk daran: jedes Werkzeug will geschliffen sein.«
    Michal schluckte Balans Fleisch, hörte noch, wie das Gewissen etwas sagte, das er nicht verstand, dann wurde ihm schwarz vor Augen, er schmeckte und spürte nichts mehr und kippte schwer vornüber.
    Viel später, als er erwachte, fand er sich im Wasserwieder. Er lag am Fuß einer Fichte und fror erbärmlich.
    Um ihn war derselbe überschwemmte Wald, aber die breite Schneise und das Baumhaus waren nirgends zusehen. Seine blutigen Wamsärmel hatten ein zartes Rosaangenommen, verwaschen von der Zeit im Wasser. Er mußte lange hier gelegen haben.
    Als er sich umsah, entdeckte er, daß sich die Mondsichel neben ihm auf der Oberfläche spiegelte. Er blickte auf, doch der Himmel zwischen den Ästen war rabenschwarz. Kein Mond weit und breit. Er sah noch einmal neben sich ins Wasser, und da erst begriff er, daß es keine Spiegelung war.
    Neben ihm lag der Mond. Oder etwas, das so aussah.
    Er tauchte die Hand ins Wasser und griff danach. Es war eine Klinge. Man mußte sie an der unteren gebogenen Spitze packen, dort, wo die Schneide stumpf undgriffig war. Erst widerwillig, dann immer zufriedenerwog er die Sichel in der Hand. In die Klinge waren fremdartige Zeichen eingraviert, und den Mittelteilschmückte das Profil eines kantigen Gesichts. Eine schöne, eine gute Waffe.
    Michal hatte wieder Hunger.
     
     
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KAPITEL 7
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    U nsere Welt ist die Hölle, und die gefallenen Engel sind mitten unter uns.« Sarais Stimme überschlug sich fast, als sie Cassius schilderte, was sie vom Golem erfahren hatte. Sie hatte es längst aufgegeben, über den Inhalt ihres eigenen Redeflusses nachzudenken. Es mochte absurd klingen, völlig unglaublich - sie aber hatte es als Wahrheit längst akzeptiert. Was blieb ihr auch übrig?
    Atemlos lief sie im Turmzimmer auf und ab. »Ein paar dieser Gefallenen haben sich in den Schatten von Menschen festgesetzt. Sie haben die Schutzengel aus den Schatten vertrieben und ihre Stelle eingenommen. Der mal'ak Jahve ist nichts anderes als eine Art Jäger, der sie für diesen ... ich weiß nicht, Frevel bestrafen soll. Er zerstört die Schatten, weil er nur so die Gefallenen darin vernichten kann.«
    Der Blick des Alchimisten folgte Sarai, wie sie aufgebracht hin- und herlief, mit schneeweißem Gesicht und zittrigen Händen. Gelegentlich sah sie ihn kurz an, wandte aber die Augen jedesmal wieder ab und starrte stattdessen auf den Fußboden vor ihr. Sie fürchtete, Zweifel in seinem Gesicht zu entdecken, Zweifel an dem, was sie sagte, und, viel schlimmer noch, Zweifel an ihr selbst. Und doch war der alte Mystiker der einzige, der ihr Glauben schenken mochte.
    Doch statt sogleich mit Erklärungen und weisen Ratschlägen aufzuwarten, wie sie insgeheim gehofft hatte, saß Cassius einfach nur in seinem Sessel am Fenster, beobachtete sie und verbarg seine Gefühle hinter einer reglosen Maske. Was immer auch in ihm vorgehen mochte, er behielt es vorerst für sich.
    Schließlich aber, als ihre Arme immer zappeliger und ihre Worte wirrer wurden, stand er auf, schnitt ihr beim Auf- und Abgehen den Weg ab und legte einen Arm um ihre Schulter. Beruhigend führte er sie zum Sessel und bedeutete ihr, sich hinzusetzen. Er selbst blieb stehen und sah mit einem sanften Lächeln auf sie herab.
    »Du hättest nicht hierherkommen dürfen«, sagte er. »Es ist zu gefährlich.«
    »Was hätte ich denn tun sollen?«
    »Beim Golem warst du in Sicherheit.«
    »Soll ich mich mit ihm in seiner Kammer einschließen? Welchen Sinn hätte das?«
    Cassius trat neben sie, legte ihr die Hand auf die Schulter und blickte dabei zum Fenster hinaus. Über den Schloßgärten dämmerte der Abend. »Welchen Sinn? Der Bote könnte dir nichts anhaben.«
    Sie schüttelte den Kopf und sprang auf. Seine Hand glitt ins Leere. »Ach, Cassius, hör auf. Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Wie lange hätte ich es in der Kammer ausgehalten, ohne Essen, ohne Wasser? Mag ja sein, daß der Golem nicht darauf angewiesen ist, ich aber hätte irgendwann so oder so nach draußen gehen müssen.«
    »Und was, wenn der mal'ak Jahve schon auf dem Weg hierher ist?«
    »Der Golem - Josef - hat gesagt, er habe sich vorerst anderen Opfern zugewandt. Es muß eine ganze Reihe davon geben.« Der Gedanke, daß in diesem Augenblick

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