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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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deutlicher erkannte er, daß die Rauchsäule an ihrem Fuß in viele kleinere zerfaserte. Mehrere Feuer mußten dort brennen, deren Qualm sich erst weiter oben zu einem einzigen wabernden Dunkel vereinigte.
    Falls dies das Werk von Bethlen Gabor war, so mußte Michal viel länger geschlafen haben, als er bisher angenommen hatte. Das Heer der Siebenbürger, das sich doch viel langsamer bewegte als ein einzelner Mann, hatte demnach einen großen Vorsprung. Das aber bedeutete, daß auch die Baba Jaga nicht mehr hinter ihm war, sondern ihn längst eingeholt hatte. Oana hatte gesagt, er sei jetzt der Herr des Hühnerhauses. Wäre es da nicht an der Zeit, daß es seine Demut ihm gegenüber bewies? Wo aber war es jetzt? Wartete es auf ihn? Irgendwo dort unten, in dieser tiefen, dunklen Landschaft?
    Michal schlug sich durch Gebüsch und Unterholz bis zur Mündung des Pfades, den er von der Felskante aus gesehen hatte. Ihm folgte er den Hang hinunter, immer wieder im Kampf mit tückischen Dornenranken und losem Geröll. Es war ein Wettlauf mit der Dunkelheit, ein Kräftemessen, das er nur verlieren konnte. Die Nacht brach an, ehe er das Tal erreichte, und von hier aus war es noch immer ein weiter Weg über den nächsten Hügel hinweg zum Ursprung der Rauchsäulen.
    Der Himmel war schwarz und Sternenlos, als er schließlich über die letzte Kuppe stieg und von der Anhöhe aus auf die Ruinen eines Dorfes blickte. Genaugenommen sah er sie nur für einen kurzen Augenblick - so lange, wie die Wolkendecke aufriß und das Mondlicht über die Hügel floß. Michal erschrak. Die Rauchfahne hing jetzt über ihm, ein schwarzer, formloser Gigant, dessen Näherkommen er in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte. Im kurzlebigen Mondflimmern wirkte der Anblick noch erdrückender. Der Geruch nach Verbranntem wehte ihm schon seit seinem Abstieg vom Berg entgegen, doch hier war er schier überwältigend. Trotzdem ging er weiter, stieg tiefer hinab in den leblosen Talgrund.
    Auf der anderen Seite des Dorfes ging das öde Land schlagartig wieder in Wald über, und er sah, daß der Boden vor und zwischen den Bäumen verräterisch glitzerte. Feuchtes, tückisches Sumpfland.
    Unten am Boden loste sich der Rauch allmählich auf, obgleich in einigen Ruinen immer noch rotgelbe Glut knisterte. Das Dorf war nicht groß. Leichen lagen umher, die ersten bereits zwanzig, dreißig Schritte außerhalb des äußeren Häuserrings. Michal nahm ein Stück Holz auf, umwickelte es mit Stoff und Stroh und hielt es in die
    Glut. Kurz darauf brannte die Fackel lichterloh und gewährte ihm neue, gespenstische Ausblicke.
    Die Leichen von Männern, Frauen und Kindern lagen verstreut zwischen den Häusern und Schuppen, viele auch im Inneren, als wäre ihnen während des Angriffs nicht einmal mehr die Zeit geblieben, ins Freie zu laufen. Zahlreiche Dächer waren verschwunden, wahrscheinlich waren sie verbrannt und eingestürzt. Tiefe Furchenhatten den Boden aufgewühlt, ein wildes Durcheinander wie von Wagenrädern - oder Riesenkrallen.
    Im selben Augenblick, da er dessen gewahr wurde, blieb Michal stehen. Noch einmal betrachtete er die Toten und achtete genauer auf ihre Verletzungen und die Art, wie sie dalagen. Was, wenn es gar keine Armee gewesen war, die hier gewütet hatte? Hatte irgend etwas die Dächer der Hütten einfach heruntergerissen, von oben hineingegriffen und ihre Bewohner getötet? Welche Schwerter rissen so breite Wunden? Welcher Mensch hatte solche Freude am Verstümmeln?
    Es war möglich, daß es Bethlen Gabors Soldaten gewesen waren. Doch ebenso denkbar war eine gänzlich andere Macht. Manche Leichen sahen aus, als wären sie mit ungeheurer Kraft in den Boden gestampft worden. Sicher, auch Heerscharen überrannten jene, die sich ihnen entgegenstellten, und Pferdewagen hatten schon somanchen Armseligen zerquetscht. Und doch: Konnte nicht ebensogut etwas anderes für dieses Massaker verantwortlich sein? Legte das Hühnerhaus eine Spur, damit er ihm folgen konnte?
    Der Tod und der Gestank trübten seine Sinne, obgleich er doch seit der Flucht vom brennenden Landgut seiner Familie ein Dutzend solcher Schlachtfelder gesehen hatte, Dorf um Dorf, das dem Fürst von Transsylvanien zum Opfer gefallen war. Im Licht der Fackel suchte er nach toten Soldaten, nach verlorenen Rüstungsteilen und Waffen. Doch da war nichts dergleichen. Konnten die unerfahrenen Zwangsrekruten Bethlen Gabors ein ganzes Dorf vom Erdboden tilgen, ohne einen Verlust in den eigenen

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